Deutscher Wirtschaftsbuchpreis
Renten-Provokateur
Ein Wirtschaftsjournalist erzählt, warum ein längeres
Arbeitsleben nötig ist – und keine Qual sein muss.
Darum geht es: Vier von fünf Ar-
beitnehmern fürchten, dass ihre Ren-
te im Alter nicht reicht. Gleichzeitig
wird der Bundeszuschuss zur Ren-
tenversicherung 2020 wohl erstmals
die Marke von 100 Milliarden Euro
durchbrechen. Und die schwierigen
Jahre, in denen die Babyboomer das
Rentenalter erreichen, kommen erst
noch. Vor diesem Hintergrund ent-
wirft Alexander Hagelüken seinen
Appell für eine grundlegende Ren-
tenreform, „die die Bürger nicht
mehr für dumm verkauft“.
Die von der Bundesregierung einge-
setzte Rentenkommission, die bis März
2020 Vorschläge für eine zukunftsfeste
Rente vorlegen soll, findet in Hagelü-
kens „7-Punkte-Plan für eine faire Ren-
tenreform“ zahlreiche Denkanstöße,
die aber alle nicht neu sind. Der Autor
empfiehlt etwa, teure Wahlgeschenke
wie die Rente mit 63 wieder einzusam-
meln, auch Selbstständige und Beamte
in die gesetzliche Rente einzubeziehen
und Altersarmut gezielt zu bekämpfen.
Das Geld für seine Reformpläne will er
unter anderem von Besserverdienern
und Unternehmen einsammeln.
Das ist der Autor: Der Journalist Ha-
gelüken, Jahrgang 1968, hat fast sein
gesamtes Berufsleben bei der „Süd-
deutschen Zeitung“ verbracht, zu-
nächst als Hauptstadtkorrespondent
mit den Schwerpunkten Arbeit, So-
ziales, Bildung und Umwelt, später
als EU-Korrespondent in Brüssel und
als Leiter des Geldteils der SZ. Heute
ist der Volkswirt leitender Redakteur
für Wirtschaftspolitik. Der Münche-
ner hat den Vermittlungsskandal bei
der einstigen Bundesanstalt für Ar-
beit oder die TTIP-Verhandlungs -
papiere enthüllt. Als Autor ist Hagelü-
ken zuvor mit seinem 2017 erschiene-
nen Buch „Das gespaltene Land“
über die Ungleichheit in Deutschland
in Erscheinung getreten.
Das überrascht: Der Verlag kündigt
einen „provokativen Debattenbei-
trag“ an. Und tatsächlich ist die For-
derung „Lasst uns länger arbeiten!“
nichts, womit man Sympathiepunkte
gewinnt. Doch Hagelüken will nicht,
dass jetzt alle bis 70 arbeiten. Er hält
nur den Rigorismus für verfehlt, mit
dem sich Unternehmen, Politiker
und meist auch Arbeitnehmer trotz
ständig steigender Lebenserwartung
und größerer Fitness bis heute an ein
festes Rentenalter klammern: „Es
funktioniert wie eine soziale Norm“,
schreibt der Autor: „Mit 65 fällt der
Hammer.“
Dabei gibt es durchaus Menschen,
die – wie Hagelüken etwa am Beispiel
des eigenen Vaters erzählt – nach Er-
reichen der Regelaltersgrenze nicht
einfach aussortiert werden, sondern
weiter Sinnvolles leisten wollen.
Auch wenn er sich bei der SPD und
den Gewerkschaften so gewiss keine
Freunde machen wird, ist Hagelü-
kens Argumentation überzeugend:
„Weil die Deutschen im Alter immer
mehr können, können sie auch län-
ger arbeiten“, schreibt er. „Bis 30 stu-
dieren und bis 90 leben, aber nur bis
60 arbeiten – das kann dagegen nicht
funktionieren.“
Das Arbeitsleben strecken könnte
auch für Entspannung in der Mitte
des Lebens sorgen, wenn Beschäftig-
te gerne kürzertreten wollen, weil
Kinder oder pflegebedürftige Ange-
hörige zu versorgen sind. Dass für
Dachdecker, Fließbandarbeiter oder
Pflegekräfte dabei andere Regeln gel-
ten, weiß auch Hagelüken. Auch hier
ließen sich aber Lösungen finden:
Statt etwa den Maurer mit Mitte 50 in
die Erwerbsminderungsrente zu schi-
cken, könnte er ja nach einer Um-
schulung noch im Büro der Baufirma
weiterarbeiten.
So viel versteht man: Das Buch hält
sich nicht mit Versicherungsmathe-
matik und Rentenformeln auf, son-
dern richtet sich an den interessierten
Laien. Hagelüken hat mit zahlreichen
Rentenexperten gesprochen, be-
schreibt fehlgeleitete Rentenreformen
oder die Gründe für das wachsende
Risiko von Altersarmut. Er lässt aber
auch die alleinerziehende Mutter, den
Lehrer im ungewollten Zwangsruhe-
stand oder den Schauspieler Dieter
Hallervorden zu Wort kommen, der
mit über 70 ein Berliner Traditions-
theater sanierte und wiedereröffnete.
Sie alle stehen als Kronzeugen für die
Kernthese: „Länger arbeiten ist keine
neoliberale Ausbeutung. Sondern ein
Weg zu einem zufriedenen Leben.“
Frank Specht
Literatur
WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167^55
Was ist nützlicher: Audioquellen, also etwa
Radio und Podcast – oder die Schrift?
Beides kann hilfreich sein, wenn die Formate
sich Zeit lassen und in die Tiefe gehen, weg
von der Schnipselwelt der Oberfläche.
Sind lange Texte eigentlich a priori gut?
Natürlich gibt es auch schrecklich ausgewalzte
Bücher, Reports und Podcasts. Gerade in der
Managementliteratur tauchen immer wieder
dicke Werke auf, denen für 250 Seiten eine ein-
zige These genügt. Aber das merkt man dann
ja doch nach den ersten 20 Seiten – und sollte
das Buch dann auch getrost weglegen. Gene-
rell gilt: je kürzer, desto schlechter.
Letztes Kontrastpaar. Was ist besser: Print
oder Digital?
Ich favorisiere Print. Online wird man dauernd
von Hyperlinks abgelenkt, die einen auf falsche
Fährten locken.
Die News-Sucht sei gefährlicher als Alkohol,
schreiben Sie. Wie sah dann Ihre persönliche
Detox-Kur aus?
Ich habe mich von allen Onlineportalen abge-
meldet, die News-Webseiten im Handy ge-
löscht und bin auch nie mehr zurückgekehrt.
Fernseher und Radio wurden verbannt. Auch
die Tageszeitungen. Das ist der erste und zu-
gleich wichtigste Schritt. Eine Lightversion die-
ser Entwöhnung wäre, sich nur noch auf ein
Printprodukt pro Woche zu konzentrieren –
und auch da nur die ausführlichen Texte zu
studieren.
Sie persönlich sind radikaler vorgegangen.
Ich habe auf alles verzichtet, ja. Und ich kann
nur empfehlen, es zumindest mal 30 Tage lang
zu versuchen. Das ist übrigens auch die härteste
Phase so einer Entwöhnung. Und wenn’s zu
schwierig wird: Man kann ja jederzeit zurück-
kehren. Aber ich garantiere Ihnen: Sie werden
sich freier fühlen ohne diese ganzen News-Split-
ter im Kopf. Sie werden mehr Zeit haben, ruhi-
ger agieren und klarer denken. Und das Erstaun-
liche: Sie werden nichts Wichtiges verpassen.
Sie selbst konzentrieren sich bei der Medien-
auswahl seither nur noch auf Ihre zwei wich-
tigsten „Kompetenzkreise“: Familie und Be-
ruf. Das Konzept der „Kompetenzkreise“
haben Sie von Warren Buffett und seinem
lang jährigen Geschäftspartner Charlie Mun-
ger übernommen ...
... und es scheint mir perfekt für jede Professi-
on: Egal, ob Sie Arzt sind oder Gärtner, Inge-
nieur oder Manager – es gibt Fachmedien, Kol-
legen, Kongresse, denen Sie vertrauen können
und durch die Sie klüger werden. Die dürfen
natürlich auch genutzt werden.
Ist das unsere Chance als Wirtschaftszeitung?
Absolut. Und da können dann natürlich auch
kleine Meldungen wieder relevant sein: Börsen-
kurse, Bilanzzahlen, Arbeitsmarktdaten – die
sind für Wirtschaftsleute ja durchaus wichtig.
Generell wäre es ideal, wenn das mediale Dau-
erfeuer Platz machen würde für saubere, kura-
tierte Angebote, die dann natürlich auch nicht
gratis sind, sondern ihren Preis haben.
Den Journalismus wollen Sie erfreulicher-
weise nicht abschaffen, sondern fokussieren:
auf Investigatives und „Erklärungspublizis-
tik“. Sind wir Teil der Lösung oder doch des
Problems?
Das hängt ganz davon ab, was Sie Ihren Lesern
bieten wollen. Je tiefgründiger das Handels-
blatt ist, umso optimistischer bin ich. Tatsäch-
lich glaube ich, dass die beiden skizzierten Fel-
der die Zukunft des Journalismus sind: Enthül-
lungen über Missstände einerseits, Analysen
und Erklärungen andererseits. Übrigens: Je ab-
hängiger Journalisten von Werbegeldern sind,
umso eher werden sie zu Drogendealern des
süßen Giftes „News“. Wer dagegen für Abon-
nenten schreibt, kann und muss dauerhaft ho-
he Qualität liefern.
Sind Ihre „Kompetenzkreise“ nicht auch ein
anderes Wort für „Filterblase“?
Nein, im Gegenteil! „Filterblase“ bedeutet: Sie
nehmen ideologisch nur jene Meinungen
wahr, die Sie ohnehin teilen. „Kompetenz-
kreis“ bedeutet eben gerade, dass man auch
ganz andere, aber fachlich fundierte Stand-
punkte abwägt. In Ihrem Kompetenzkreis su-
chen Sie aktiv nach Informationen, die Ihre
Sicht der Dinge unterminieren. Und das macht
Sie am Ende schlauer.
Angesichts von Twitter, Facebook und Co.
sprechen Sie auch von „brodelnden Mei-
nungsvulkanen“ allerorten.
Schauen Sie sich um: Es werden viel zu viele
Meinungen produziert – und zu wenig Fakten.
Wir alle haben nur 24 Stunden pro Tag. Schon
wenn man in den beiden Kompetenzkreisen
Familie und Beruf gut sein will, hat man wirk-
lich genug zu tun.
Ist Donald Trump Spross, Profiteur und Fanal
unserer „News“-Sucht gleichermaßen?
Ich denke schon. Erfreulicherweise kriege ich
von ihm kaum etwas mit. Ich bekomme ihn
quasi nur über die Empörung meines Bekann-
tenkreises gespiegelt, der mir dauernd sagt,
dass man den Mann einfach nicht mehr aus-
halten könne. Und meine Antwort ist dann:
Man kann auch gut auf Trump verzichten.
Haben Sie überhaupt mitbekommen, dass er
neulich einen Staatsbesuch in Dänemark ab-
sagte, weil ihm die Regierung Grönland nicht
verkaufen wollte?
Hahaha! Nein. Wirklich? Verrückt! Und macht
mich das nun klüger, dass ich es weiß? Sie se-
hen: So absurd ist die „News“-Industrie. Und
so irrelevant.
Ihr Resümee: News sind sogar demokratie-
schädlich.
Sie sind gefährlich, ja, weil sie ja fortwährend
weiter pervertieren. Es geht längst nicht mehr
nur um dummen Schrott. Der Anteil von Fake
News am gesamten Nachrichtenaufkommen
wächst stetig.
Was wird die Zukunft bringen?
Vier Trends: Die News-Flut nimmt exponen-
tiell zu. Sie umgibt uns immer und überall. Al-
gorithmen verstehen uns immer besser und er-
schaffen die „Nachrichten“ immer öfter selbst
- personalisiert auf unsere Interessen zuge-
schnitten. Und News lösen sich zunehmend
von der Wahrheit. Wenn Sie den Mut haben
auszusteigen, tun Sie es jetzt noch! Schon in
wenigen Jahren werden die künstlichen News-
Aggregatoren so perfekt sein, dass Sie den Aus-
gang nicht mehr finden. Auch da helfen Bü-
cher, die selbst für die beste Künstliche Intelli-
genz noch lange nicht reproduzierbar sein wer-
den. Fake News sind einfach zu produzieren.
„Fake Books“ hingegen schwierig.
Droht uns ein von Maschinen generiertes, to-
talitäres Lügengewitter?
Dagegen wären wir nur gefeit, wenn wir als Ge-
genwaffe andere Agenten Künstlicher Intelli-
genz entwickeln könnten, die für uns die
Wahrheit noch erkennen. Wir als Menschen al-
lein kriegen das nicht mehr hin. Davon bin ich
überzeugt.
Wer ist der wahre Gegner? Klassische Boule-
vardmedien oder Medienkonzerne wie Goo-
gle?
Auf jeden Fall Google und andere IT-Konzerne.
Gegen deren technologische Fähigkeiten ist
der Boulevard harmlose Unterhaltung.
Wünschen Sie sich von der Politik Regelungen
gegen die Droge „News“?
Schwierige Frage, auf die ich noch keine Ant-
wort habe. Ich vertraue eigentlich gern dem
Markt und der Kraft rationaler Konsumenten,
die diesen Markt durchaus beeinflussen kön-
nen. Aber manchmal versagen auch Märkte.
Wie geht eigentlich der Rest Ihrer Familie mit
Ihrer Mission um?
Lustigerweise hat meine Frau schon viel früher
mit dem News-Konsum aufgehört. Aber bei ihr
ergab es sich einfach so, während ich mich ak-
tiv entwöhnen musste.
Herr Dobelli, vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte Thomas Tuma.
Alexander
Hagelüken:
Lasst uns länger
arbeiten!
Droemer Knaur,
München 2019,
224 Seiten,
16,99 Euro.
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