Peter Bosz, als aktiver Spieler schrieben Sie
regelmäßig Zeitungskolumnen. Wie beur-
teilen Sie den aktuellen Sportjournalis-
mus?
Sie dürfen das nicht überbewerten. Ich
war kein Journalist, sondern schrieb
nach meinem Wechsel von Feyenoord
nach Japan nur einmal wöchentlich für
eine kleine Zeitung in meiner Heimat
Apeldoorn über das Leben in Fernost.
Da ging es nicht um Fußball, sondern
um die japanische Kultur.
Allerdings führten Sie diese Tätigkeit auch
nach Ihrem Wechsel 1997 zu Hansa Rostock
fort.
Auch das Leben in Ostdeutschland hat
die Menschen in meiner Heimat interes-
siert.
Worüber haben Sie denn berichtet?
Beispielsweise über meine Empfindun-
gen, als wir im Februar 1998 zum Aus-
wärtsspiel gegen den FC Bayern flogen.
Wir landeten in München am Flughafen
zur selben Stunde, zu der genau vierzig
Jahre vorher die Mannschaft von Man-
chester United dort abgestürzt war. Ein
mulmiges Gefühl.
Sprich: Wie ein Journalist gedacht haben
Sie nie?
Nein, was auch ganz gut so ist.
Die lustigste Schlagzeile mit ihrem Na-
men?
Mit Bosz ( gesprochen „Boss“, d. Red. )gab
es schon fast alles. Hauptsache, der
Name ist richtig geschrieben. ( Lacht .)
Zum Sportlichen. Ihnen wird ja öfter vorge-
worfen, Ihre Teams durch die offensive Aus-
richtung großen Gefahren auszusetzen.
Fehlt uns Deutschen womöglich der Mut
und die Fantasie, um den niederländischen
Offensivfußball nachzuvollziehen?
Keine Sorge, meine Spielweise wird
auch in Holland kritisiert. Aber ich ar-
beite noch nicht lang genug in diesem
Land, um zu verstehen, wie die Deut-
schen ticken. Wenn ihnen wirklich der
Mut fehlt, wie sie mutmaßen, ist es ja
gut. Vielleicht gelingt es mir dann noch,
sie mit unserer Art von Fußball vom Ge-
genteil zu überzeugen. ( Lacht .)
Nicht falsch verstehen, auch uns macht ein
Hurra-Spiel mit Endstand 6:5 Spaß. Der Ge-
lackmeierte sind Sie als Trainer, der hinter-
her die Niederlage oder zu viele Gegentore
erklären muss.
Natürlich will auch ich gewinnen, aber
meine Überzeugung ist, dass wir Profi-
fußball für die Fans spielen. Und ich
möchte, dass Menschen, die ein Spiel
meines Teams sehen, nach Hause gehen
und sagen: „Boah, das war großartig.
Was für ein aufregender Fußball.“
Im Pro-oder-Contra-Fragebogen entschei-
den Sie sich demnach für das „turbulente
5:5-Unentschieden“ und gegen den „schnö-
den 1:0-Sieg“?
Nein. Der 1:0-Sieg sticht immer das 5:5,
aber noch lieber wäre mir ein 5:4-Sieg.
Ich hasse Niederlagen. Aber ich glaube,
dassesunterschiedlicheWegegibt,zuge-
winnen. Natürlich weiß ich, dass mein
Weg grundsätzlich ein sehr schwieriger
ist, denn wenn bei offensivem Spiel Feh-
ler passieren, ist das Team hinten sofort
anfällig.
Das heißt, bei Ihnen dürfen sich Spieler
keine Fehler erlauben.
Offensivfußball bedeutet nicht zwangs-
läufig ein höheres Risiko, er bedarf nur
einer noch detaillierteren Planung.
Wenn wirhinten undvorne kompakt ste-
hen, werden die Abstände so kurz, dass
wir selbst bei einem Ballverlust sehr
schnell reagieren können. Und wenn ich
als Trainer das Spiel richtig analysiere,
ist es auch möglich, dass meine Mann-
schaft mit der Zeit immer seltener Ge-
gentore bekommt und gleichzeitig mehr
Tore erzielt. Aber es setzt einen klaren
Plan und eine harte, analytische Arbeit
voraus. Und sehr aufmerksame Spieler.
Bei Ajax forderten Sie die sogenannte
„Fünf-Sekunden-Regel“. Das Zeitlimit, in
dem Ihr Team nach Ballverlust das Leder
zurückerobern und zur Grundordnung zu-
rückfinden sollte. Welche Zeitvorgabe ma-
chen Sie aktuell in Leverkusen?
Letzte Saison ist uns das mit der Sekun-
denregel noch nicht so gut gelungen. Ei-
nige hatten damit noch Probleme. Denn
das Gefährliche an dieser Vorgabe ist,
wenn nur ein Spieler das Limit nicht
schafft, geht der komplette Druck verlo-
ren und alle müssen viel mehr laufen.
Als Aktiver galten Sie selbst als Rumpelfuß-
baller, der mehr über den Kampf zum Spiel
fand. Sind Sie deshalb als Trainer ein eiser-
ner Verfechter des attraktiven Fußballs?
Als ich 2000 als Trainer anfing, hatte ich
keine Ahnung, was für ein Typ ich bin.
Bei meinemersten Testspielals Coachin
Apeldoorn gegen mein altes Team von
Feyenoord stand ich an der Bank und
wusste überhaupt nicht, wie ich mich
verhalten soll. Sollte ich die Spieler an-
schreien,mich hinsetzenoder einfach ru-
hig zusehen? Ich wusste es nicht. Aber
eins war mir sofort klar: Wenn der Geg-
ner den Ball hatte, wurde ichnervös, wa-
ren wir in Ballbesitz, war ich ganz ruhig.
Aufdieser Grundlagehabeich meinePhi-
losophie gebaut: Ich wollte schönen, of-
fensiven Fußball spielen lassen. Ich als
Spieler hätte in keinem meiner Teams je
eine Chance gehabt. ( Lacht. )
Zu offensiver Fußball kann einem Trainer
auch den Job kosten. Denken Sie über so
etwas nach?
Niemals!EineBegleiterscheinungdesBe-
rufsistesnuneinmal,dasseinTrainerbei
Misserfolgrausfliegt.JoséMourinho,der
vielegroßeTitelgewonnenhat,wurdein
Manchesterauchentlassen,obwohlerde-
fensivspielenließ.Dabevorzugeichmei-
nenWeg. Sehr offensiv, ja. Aber auch de-
fensiv kompakt, wenn alle die Vorgaben
richtigumsetzen.
Haben Sie sich vor Ihrer Landung bei Bayer
04 eigentlich über das Vizekusen-Image Ge-
danken gemacht?
( Stutzt. ) Vizekusen? Was ist Vizekusen?
Sie haben nie davon gehört, dass dieser
Klub mit einem Fluch belegt ist?
Nein. Als ich mich bei Bayer vorgestellt
habe, habe ich mir nur über die Spielphi-
losophie Gedanken gemacht. Ich weiß,
dass der Klub immer gute Spieler hatte,
in den frühen 2000ern zum Beispiel mit
Michael Ballack und einigen herausra-
genden Südamerikanern. Ich habe mir
den aktuellen Kader angeschaut und
überlegt, was ich mit diesen Profis an-
fange. Etwa, in welcher Rolle ich mir Ju-
lian Brandt vorstellen könnte.
Um das Vizekusen-Trauma zu besiegen,
müssten Sie nur einmal Meister werden.
Aber es macht keinen Sinn, über Titel zu
reden. Um Titel zu gewinnen, muss man
arbeiten.
Träumen Sie davon, als Trainer eine Ära zu
begründen? Ihre Engagements dauerten
bislang maximal drei Jahre.
Ich habe mit Unterbrechung insgesamt
fünf Jahre bei Heracles Almelo gearbei-
tet. Aber die Zeiten haben sich geändert.
DieMaldinis,dieihrLebenlangnurbeiei-
nem Verein spielen, gibt's nicht mehr.
UndbeiTrainernistesähnlich.Soistder
moderne Fußball nun mal. Ich bin jetzt
ein halbes Jahr hier und habe den Ein-
druck, in der Bundesliga-Rangliste bei
den dienstältesten Trainern schon wie-
derinsMittelfeldaufzurücken.WennSie
heutzutage zweimal in Folge verlieren,
dannwerdensienichtseltenschonausge-
pfiffen. Und nach dem vierten Mal kann
espassieren,dass Sieentlassen werden.
Bitter, oder?
Es ist keine schöne Entwicklung, aber
letztlich kann ich damit leben, denn ich
weiß, wo ich hin will. Ich will meine
Spielphilosophie umsetzen, Erfolg ha-
ben und die Fans gut unterhalten.
Peter Bosz, von Hause aus verfügen Sie
über eine volle Lockenpracht. Vor ein paar
Jahren rasierte Ihnen Ihre Frau aus einer
Laune heraus eine Glatze. Machen Sie das
inzwischen selbst?
Jeden Morgen.
Und wenn Sie es nicht täten, hätten Sie vol-
les Haar?
Nicht mehr so wie damals, aber es
würde schon wieder einiges wachsen.
Aber ganz ehrlich: So wie jetzt gefalle
ich mir wesentlich besser.
— Das Gespräch führte Tim Jürgens. Le-
sen Sie das komplette Interview im Bun-
desliga-Sonderheft von 11 Freunde.
Wer ist der lachende Dritte? I Zum fünften Mal steht Borussia
Dortmund nach zwei Spieltagen an der Tabellenspitze – Meister
wurde der BVB daraufhin aber lediglich einmal. Ist vielleicht günsti-
ger, sich erst einmal etwas im Windschatten des Führenden zu hal-
ten und dann erst im richtigen Moment auszuscheren. So machte
es vergangene Saison der FC Bayern. Das Auftaktprogramm ist
nun für beide Teams gleich leicht oder schwer. Am Samstag geht
es für Bayern gegen Mainz (0 Punkte) und für Dortmund zu Union
(1). An den ersten acht Spieltagen geht es für beide Klubs jeweils
lediglich einmal gegen eine Mannschaft, die in der vergangenen
Spielzeit zu den Top vier gehörte. Gleiches gilt übrigens auch für
den SC Freiburg (Samstag gegen Köln/0), der nach zwei Siegen der-
zeit direkt hinter Dortmund mit ebenfalls sechs Punkten auf Platz
zwei der Tabelle steht. Auch auf die Breisgauer wartet an den ers-
ten acht Spieltagen nur eine dieser Partien gegen die sogenannten
Top-Teams. Dass es sich dabei um Dortmund handelt, ist vielleicht
gar nicht so schlecht. Bei einer Niederlage am siebten Spieltag
wäre der Windschatten noch ein wenig länger gewiss.
Wer ist der lachende Dritte? II Es gibt sie ja,
diese Wechsel, die wirklich für beide Seiten
Sinn ergeben. Für den Spieler als auch für
den aufnehmenden Klub. Es gibt aber auch
solche Wechsel, bei denen vor allem eine Seite profi-
tiert. Der FC Bayern tat sich da schon häufiger hervor,
als der Klub seiner aufstrebenden Konkurrenz serien-
weise den besten Spieler aus dem Kader wegkaufte. Im
Falle von Bremen und Michael Gregoritsch (Bild) hätte
sich der Fall jedoch anders dargestellt. Weder steht Wer-
der im Verdacht, das Gebaren der Münchner zu überneh-
men, noch gilt der Stürmer aus Österreich als bester
Mann seines aktuellen Arbeitgebers aus Augsburg. Dass
sich ein Vereinswechsel an die Weser nun aber wegen über-
höhter Ablöseforderungen der Schwaben zerschlug, macht
vor dem direkten Duell am Sonntag nun vor allem Sinn für
den FCA. Auch diesen Fall gibt es: Gregoritsch traf gegen kei-
nen Klub öfter als gegen Bremen (sechsmal).
Wem hat’s die Stimme verschlagen? Mainz hat Adam
Szalai zurückgeholt. Aber nicht zum Spaß, wie alle Seiten
betonen. Während seiner ersten Zeit in Mainz wurde der Stür-
mer an der Seite von Lewis Holtby und André Schürrle zu den
„Bruchweg Boys“ hochgejazzt, sie bejubelten ihre Tore im
Stile einer Rockband. „Ich bin aber nicht zurück, weil ich da-
mals so schön Schlagzeug gespielt habe", sagte der 32 Jahre
alte Ungar nun bei seiner Vorstellung. Doch was müsste
Holtby da aktuell erst sagen? „Ich stehe nicht ohne Verein da,
weil ich damals so schön gesungen habe“?
Wer muss hellwach sein? Mönchengladbach sollte am Freitag-
abend gewarnt sein: An beiden Spieltagen traf die Mannschaft
aus Leipzig mit ihrem ersten Torschuss der Begegnung zur Füh-
rung. Gegen Union sprangen für die Sachsen vier Treffer raus,
gegen Frankfurt zwei. In beiden Spielen traf Timo Werner. Der
Nationalstürmer hat jetzt viermal so viele Bundesliga-
treffer (52) auf dem Konto wie zu seiner Zeit in Stutt-
gart – nach jeweils 95 Spielen.
FRAGEN AN DEN SPIELTAG von Benjamin Apitius
Eine Frage quält Europa, und zwar schon
lange. Es geht um die Deutschen. Genau,
das sind die, deren Fußball so schrecklich or-
ganisiert ist, dass er vielen Leuten als Inbe-
griff der Langeweile und Verzagtheit gilt.
Diese Deutschen, deren größter Spieler ein
Ausputzer war, schießen die meisten Tore.
Und zwar fast immer. In den letzten vierzig
Jahren kam es bloß zweimal vor, dass die
Bundesliga nicht mehr Tore pro Spiel produ-
zierte als jede der anderen großen Ligen.
Warum das so ist, kann niemand erklä-
ren. Es hat nichts mit Spielern und Syste-
men, Trainern oder Trends zu tun, denn das
war schon so, als Gerd Müller müllerte, es
war immer noch so, als die Rumpelfüße
rumpelten, und es ist auch heute so. Nach
zwei Spieltagen steht die Bundesliga schon
wieder bei 3,44 Toren pro Spiel. Allerdings
muss man sagen, dass zumindest hinter der
aktuellen Torflut kein Geheimnis steckt. Um
sie zu verstehen, reicht ein Blick auf den ver-
gangenen Spieltag.
Der begann damit, dass Dortmund beim
Aufsteiger Köln in Rückstand geriet, weil
eine für viel Geld verstärkte Abwehr von der
einfachsten aller Eckballvarianten über-
rascht wurde: Flanke an den ersten Pfosten,
Kopfballverlängerung zum zweiten. Der BVB
rettete das Spiel später noch, weil der Geg-
ner seinerseits nicht damit rechnete, dass
Ecken auch kurz ausgeführt werden kön-
nen.
Am Samstag fielen bei Mainz gegen Glad-
bach die ersten drei Treffer nach Freistößen
(und es wären mehr gewesen, hätte Daniel
Brosinski besser gezielt). Bremens Auftritt in
Hoffenheim führte derweil zu drei Eckballto-
ren. Und Düsseldorf schaffte zeitgleich gar
so eine Art Hattrick der Deckungsfehler. Zu-
erst hatte Fortuna noch großes Glück, dass
man nach einer Ecke auf der Linie klären
konnte, anschließend aber kassierte die Elf
erst einen Treffer, weil ein Leverkusener eine
Freistoßflanke ungehindert annehmen
durfte, bevor schließlich ein simpler Einwurf
das nächste Gegentor einleitete. Am Sams-
tagabend passierte auch bei den großen
Bayern alles Wichtige nach sogenannten ru-
henden Bällen: das 1:0, das 2:0 und die strit-
tige Rettungstat von Ivan Perisic. Einen Tag
später gingen die Umschaltkönige aus Leip-
zig nicht etwa durch einen Konter in Füh-
rung, sondern nach einem banalen Eckball.
Fast glaubt man zu hören, wie Engländer,
Spanier, Italiener und Franzosen stöhnen
und sagen: „Wenn ihr jetzt nicht mal mehr
Standardsituationen verteidigt, wie sollen
wir dann mithalten?“
„Vizekusen?
Was ist Vizekusen?“
FUSSBALL SEHEN
Ecko
mio
CD 11 FREUNDE
Leverkusens Trainer
Peter Bosz über
Zeitungskolumnen
aus Ostdeutschland,
den niederländischen
Drang zur Offensive,
seine verloren
gegangenen Locken
und den Makel
seines neuen Klubs
mit
Uli Hesse
ZAHLEN BITTE!
Peter Bosz, 55, wurde als
Spieler mit Feyenoord Meis-
ter und Pokalsieger. Als
Bundesliga-Trainer war er
auch schon in Dortmund.
Siege zum
Start schaffte
mit Wolfs-
burg bisher nur Trai-
ner Wolfgang Wolf.
1998. Alle 1:0.
Kai Hunger, VSG Marbach
Steven Durst, VfB St. Leon
Jonas Kaffee, vereinslos
Julian Kuchen, Eintracht Rheine
Joachim Sahner, Karriereende
Simon Zucker, SC Pollanten
Johannes Sacher, Rohrendorf
Péter Milchram, Lackendorf
Mads Gabel, Fremad Amager
Tamás Törtei, Tarpa FC
F. Schwarzwälder, Karriereende
Im aktuellen Heft
finden Sie u. a.
die große Reportage
über Joshua Kimmich.
3
LISTIGE
LISTE
Fußballer beim
Kaffeekränzchen
11 FREUNDE FREITAGS Die Sonderseite zu jedem Bundesliga-Wochenende
Fotos: Katrin Binner für 11Freunde, Rob Croes/Anefo
16 DER TAGESSPIEGEL SPORT NR. 23 930 / FREITAG, 30. AUGUST 2019
Foto: AFP