Die Welt Kompakt am Sonntag - 25.08.2019

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KULTUR


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stehe immer um vier Uhr Ortszeit auf.
Wenn ich in Belgien oder Frankreich
bin, werde ich ganz von allein wach.
Schließlich halte ich mich ein halbes Le-
ben an diese Regel, da hat sich der Kör-
per längst drauf eingestellt. Kaum bin
ich aus dem Bett gesprungen, trinke ich
einen halben Liter sehr starken, zu star-
ken schwarzen Tee, und zwar in einem
Zug. Das bläst meinen Kopf weg. Dann
stürze ich mich sofort auf meine
Schreibhefte und beginne, mit einem
einfachen Bic-Kugelschreiber zu schrei-
ben, und zwar etwa vier Stunden lang,
ohne Unterbrechung. Danach weiß ich,
dass ich mein Romanwerk für diesen
Tag erledigt habe. Ich ziehe mich or-
dentlich an und gehe in mein Verlags-
haus, wo ich auf die Leserpost antworte.
Ich erhalte außerordentlich viele Leser-
briefe. Sie zu lesen ist ein Job. Auf sie zu
antworten ein weiterer Beruf.

Warum machen Sie das?
Das ist eine gute Frage. Ich mache das
nicht für irgendeine Gegenleistung. Ich
tue es, weil ich es nicht lassen kann.
Diese Briefe faszinieren mich. Von ganz
wenigen Ausnahmen abgesehen, lese
ich sie mit Genuss, Faszination, Gewinn
und Gefühl. Was sollte ich anderes tun,
als sie zu beantworten?

Und wie viele erhalten Sie?
Gott sei Dank bin ich mathematisch un-
begabt und zähle sie nicht. Aber um
nicht total den Anschluss zu verlieren,
muss ich jeden Tag 20 Briefe beantwor-
ten. Das ist enorm. Eines Tages werde
ich vielleicht explodieren. Wer weiß.

Antworten Sie mit dem Computer
oder handschriftlich?
Alles handschriftlich. Ich bin ein zu 100
Prozent analoger Mensch.

Haben Sie kein Handy?
Nein, weder Handy noch Internet. Ich
lebe mit einem Nerd zusammen, aber

ich selbst brauche das nicht. Das war ir-
gendwann eine rein instinktive Ent-
scheidung. Heute beglückwünsche ich
mich jeden Tag dazu. Es gibt mir mehr
Freiheit, kein Handy zu haben, nicht im
Netz zu hängen. Für mich wäre es to-
xisch gewesen.

Sie haben sich dafür eingesetzt, dass
Ihr französischer Verlag nicht die Me-
moiren von Jean-Marie Le Pen veröf-
fentlicht, des Gründers des Front Na-
tional. Warum?
Mein Verlag, Albin Michel, war ja nicht
der einzige, der sie veröffentlichen
wollte, weil sich so etwas nun mal gut
verkauft. Aber musste es ausgerechnet
hier sein? Ich finde, wir haben hier die
Quote an Grenzwertigem schon er-
reicht. Albin Michel geht es finanziell
gut, das Haus braucht keinen Le Pen.

Die heutigen Nationalisten in Europa
lassen Le Pen wie einen Vorreiter aus-
sehen. Das muss Sie deprimieren ...
Ja, das betrübt mich sehr. Heute haben
wir wirklich alle Mittel, alles zu recher-
chieren, was allein beweist, dass das In-
ternet überhaupt nichts bringt. Denn
Internet zu haben und nicht den Zu-
sammenhang zwischen den 30er-Jahren
zu sehen und dem, was heute passiert,
das ist schon eine echte Leistung!

Mein Sohn musste gerade für sein
Französisch-Abitur lernen. Er zitierte
den Satz von Ihnen, dass man liest,
um eine andere Weltsicht zu entde-
cken. Wenn Sie in Ihrer Abiturprü-
fung auf so einen Satz gestoßen wä-
ren, was hätten Sie geantwortet?
Vermutlich hätte ich gesagt: Diese
schreckliche Amélie Nothomb, was für
eine Nervensäge! Es ist sicher nicht
leicht, über einen solchen Satz als jun-
ger Mensch zu philosophieren. Ander-
seits liegt’s doch auf der Hand: Ist ein
Buch nicht der beste Weg, das Intimste
einer Person zu entdecken? Proust hat
es auf den Punkt gebracht: Lesen er-
möglicht, dem anderen zu begegnen,
ohne die Tiefe zu verlieren, die man nur
in der Einsamkeit erlebt. Genau das ist
es. Lesen heißt, dass man allein ist und
in diesem Zustand des Alleinseins den
anderen trifft.

Ist die Literatur ein Weg, mit anderen
mitzufühlen?
Absolut. Vor allem ermöglicht sie einem
Zugang zu denjenigen, die man im nor-
malen Leben nicht trifft. Ich denke vor
allem an böse Menschen. Das Böse exis-
tiert. Wir haben alle Feinde, Menschen,
die man nicht mag. Man meidet sie, geht
nicht auf sie zu. Die Literatur ist mitun-
ter die einzige Möglichkeit, endlich mal
Zugang zum Bösen zu haben, zum
Feind, zum Dreckskerl, zum Mörder,
und zwar auf eine so tiefgehende Weise,
dass man sie am Ende nicht unbedingt

liebt, aber vielleicht ein bisschen mehr
über sie weiß und versteht, warum sie
so geworden sind.

Es gibt in Ihren Büchern viele Morde.
Tut das gut, sie auszudenken?
Ich verspüre einen starken Todesdrang.
Keine Ahnung, ob er bei mir ausgepräg-
ter ist als bei anderen. Ich glaube, wir
verspüren den alle. Jeder von uns hat
sich wahrscheinlich schon mal mit dem
Gedanken getragen, verhasste Nach-
barn oder Kollegen umbringen zu wol-
len. Geht natürlich nicht. Wir machen
es nicht, weil wir Angst vor den Konse-
quenzen haben und wissen, dass sich
das nicht gehört. Es beim Schreiben zu
tun, ist eine hervorragende Form der
Katharsis. Das tut wirklich sehr gut.

Eine der Hauptfiguren ist als junges
Mädchen missbraucht worden, aber
niemand redet darüber. Auch Sie ha-
ben das erlebt, und alle haben ge-
schwiegen. Ist das Schweigen verhee-
render als der Missbrauch?
Das ist gut möglich, aber in Wahrheit
kann ich Ihre Frage nicht beantworten,
weil ich keine Vergleichsmöglichkeit ha-
be. Was mir mit zwölfeinhalb Jahren
passiert ist, war schrecklich. Noch ver-
rückter war, dass es Zeugen gab. Meine
Eltern sahen zu, meine Schwester. Sie
wussten es.

Ihr Vater war belgischer Botschafter in
Bangladesch. Dort wurden Sie im Meer
von vier Männern vergewaltigt, wäh-
rend Ihre Familie am Strand saß ...
Ja. Aber nie wurde darüber auch nur ein
Wort gesagt.

Warum hatte Ihre Familie Ihnen nicht
geholfen?
Das ist etwas, was für mich schwer zu
fassen ist. Es ist inzwischen viel Zeit
vergangen. 2004 habe ich ein Buch ge-

Die Belgierin Amélie Nothomb,
5 3, gehört zu den erfolgreichsten
Schriftstellerinnenfranzösischer
Sprache. Seit ihrem ersten Buch,
„Die Reinheitdes Mörders“, 1992
schreibt sie jedes Jahr mehrere
kurze Romane, bringt aber im-
mer nur einen heraus. Ihre Bücher
wurden oft mit Preisen wie dem
„Grand Prix du Roman“ der
Académie française ausgezeich-
net. Bei französischen Literatur-
kritikern hat sie weniger Erfolg.
Aufgewachsen ist sie in Japan,
Peking, New York und Südost-
asien, wo ihr Vater, ein Baron,
Konsul war. Nothomb lebt in
Brüssel und Paris. Am 28. August
erscheint ihr neuer Roman „Klopf
an dein Herz“.

Amélie Nothomb
Schriftstellerin

FORTSETZUNG AUF SEITE 36

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