er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
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Kultur

D


ies ist ein ungewöhnliches Buch. Der Verlag nennt es
einen Roman, das hat sich in Deutschland bewährt für
ein längeres Prosastück, aber es setzt sich mit einem
beherzten Sprung über mindestens zweierlei hinweg, was
von der hiesigen Gegenwartsliteratur normalerweise erwartet
wird: Es knüpft nicht an die all-
tägliche Erfahrung an, und es ver-
wendet für vieles, was uns gleich-
wohl bekannt vorkommt, eine
eigene Sprache.
Ein erster Effekt beim Lesen ist
radikale Aufmerksamkeit. Die Ko-
ordinaten der menschlichen Erfah-
rung, Ort und Zeit, müssen durch
die Lektüre erst gewonnen werden.
Aber auch die Frage, von was für
einer Gesellschaft bei dieser Ge-
schichte über Liebe und Macht die
Rede ist, erschließt sich erst nach
und nach. Es wäre also in hohem
Maße spoilernd, im üblichen Sinne
von diesem Buch zu erzählen.
Immerhin kann man sagen,
dass das Lesenlernen selbst eine
bedeutende Rolle spielt. Die Er-
zählerin dieser Geschichte, eine
junge Frau, die ein lediglich ge-
duldetes Mitglied ihrer Gesell-
schaft ist, darf sich das Buchsta-
bieren, das Erfassen und Schrei-
ben von Wörtern nur heimlich
erschließen. Ihr Erzieher und Ob-
dachgeber, der »Bethaus-Vater«,
hilft ihr dabei.
Mädchen wie Frauen sollen
sich in diesem Dorf auf einer In-
sel, die in vielem an die Archipele im südöstlichen Europa
erinnert – das Klima, die Flora, die Architektur –, auf kör-
perliche Arbeiten beschränken. Die Männer sitzen »im Schat-
ten der Bäume vorm Lokal, trinken Kaffee und Schnaps, rau-
chen Tabak, zählen Betperlen, spielen Spiele, diskutieren
Männersachen, lesen, machen Pläne, warten darauf, dass sie
endlich nach Hause gehen können, warten darauf, dass ihre
Frauen, Töchter, Enkeltöchter endlich das Feld, den Hof, das
Haus, das Essen bereitet haben«.
So fremd ist diese Gesellschaft also wiederum nicht. Wie
Max Frisch in seinem parabelhaften Theaterstück »Andorra«
entwirft Karen Köhler eine Brühwürfelwelt, eine Verdichtung
von Phänomenen, die europäischen Traditionen entsprechen:
die Versammlung einer Gemeinschaft um die Pole Religion
und weltliche Macht, deren jeweilige Herrscher die Einfluss-
sphären unter sich teilen, aber taktisch und ideologisch ko-


Karen Köhler: »Miroloi«. Hanser; 464 Seiten; 24 Euro.


operieren; die Trennung der Geschlechter durch Arbeit und
Bildung – wobei die Frauen das Los der Dürftigkeit gezogen
haben; die gemeinsame, dionysische Entgrenzung mittels
Musik und Alkohol zu festgelegten Feierstunden.
In dieser sehr engen Welt beziehen die Menschen, egal
auf welcher hierarchischen Stufe sie stehen, ihr Vertrauen in
sich selbst und die Gemeinschaft auch daraus, dass sie defi-
nieren, wer dazugehören darf. Die Erzählerin, ein namenloses
Findelkind, darf es nicht, nur deshalb kann sie von dieser
Welt berichten: Die Selbstverständlichkeit der anderen ist
ihr Befremden. Und da sie für vieles keine Begriffe hat, aus
Mangel an Lektüre wie durch die Abgeschiedenheit dieser
Insel, heißt die Depression einer Nachbarin »die große Trau-
rigkeit«, und romantische Sehnsucht fühlt sich an wie »Vögel
in der Brust, die mit ihren Flügeln nach meinen Knochen
schlagen«.
Eine solche Poetik des Anderen und des Archaischen, wie
man sie auch von Christa Wolfs Neuerzählungen antiker
Mythen oder den Wanderer-
Roma nen von Peter Handke
kennt, ist immer ein Grenzgang
zwischen Ein dringlichkeit und
Kitsch – Karen Köhler strauchelt
dabei fast nie.
Die Hamburger Autorin, 45,
war früher Schauspielerin; sie
schreibt erfolgreich für das Thea-
ter und hat 2014 einen Erzäh-
lungsband mit dem prägnanten
Titel »Wir haben Raketen gean-
gelt« veröffentlicht. Diese Samm-
lung machte aus guten Gründen
Eindruck, die ganz andere sind
als die, mit denen ihr Roman »Mi-
roloi« besticht. In ihren Geschich-
ten war Köhler ganz in und von
dieser Welt, vor allem aber dem
großen Beweger Zufall verpflich-
tet: Bei den Expeditionen ihrer
Figuren durch die Wüste von Ne-
vada, durch die Krebsstation ei-
nes Krankenhauses oder in einem
Dorf in der deutschen Provinz
waren die schicksalhaften Wen-
dungen oft verblüffend, doch zu-
gleich absolut überzeugend.
In »Miroloi« ist nichts dem Zu-
fall überlassen; die Erzählhaltung
hat sich ihrer imaginierten Welt
anverwandelt und dem Gesetz des Immergleichen verschrie-
ben. Zwar gibt es – im Sinne einer Romanhandlung – Bewe-
gung in dieser erdachten Totalität. Doch kann bei dieser Art
von Literatur, wie bei einem Kreuzworträtsel, eben nur he-
rauskommen, was zuvor eingespeist wurde. Zugleich haben
es viele Parabeln nun einmal an sich, dass der spröde Reich-
tum des Psychologischen und des überraschenden Details –
beides Merkmale von Köhlers Geschichtenband – dem Sche-
matischen und dem Willen zur Botschaft weichen. Von der
Tradition des bürgerlichen Romans als Seelen erkundung und
Schule der Mehrdeutigkeit ist »Miroloi« selbstbewusst und
sternenweit entfernt.
Ob das bewunderungswürdig und faszinierend, beklem-
mend oder ein wenig lähmend wirkt, das entscheidet sich im
Gemüt der jeweiligen Leser. Man kann wohl sagen, dass in
diesem Roman kein Haken eingeschlagen wird, an dem nicht
irgendwann ein Mantel hinge. Allerdings gibt es ja auch spek-
takulär interessante Garderoben. Elke Schmitter

Bericht aus


der Brühwürfelwelt


LiteraturkritikIn ihrem Roman »Miroloi«


entwirft Karen Köhler eine archaisch fremde und


doch verstörend vertraute Gesellschaft.


CHRISTIAN ROTHE
Autorin Köhler
Selbstbewusst und sternenweit entfernt
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