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artin Jacob, 61, hat an diesem
Dienstag noch viel zu tun.
Die Pflaumenbäume in Weira,
Thüringen, spielen verrückt,
sie wachsen in diesem Sommer so rasant,
dass die Äste über die Gartenzäune hän-
gen. Jacob fährt deshalb durch die Nach-
barschaft, sägt die Äste ab und transpor-
tiert sie mit einem kleinen Laster weg. Ja-
cob arbeitet für die Gemeinde. Seit Januar
1999 ist er außerdem ihr Bürgermeister,
ehrenamtlich.
In der hügeligen Siedlung, eine gute Au-
tostunde östlich von Erfurt entfernt, leben
knapp 400 Menschen. »Ich kenne sie alle«,
sagt Jacob und grüßt tatsächlich jeden, der
ihm über den Weg läuft. Wenn es Proble-
me in der Nachbarschaft gibt, ist Jacob der
Ansprechpartner. Würde man in dem idyl-
lischen Ort so etwas wie die Mitte der Ge-
meinschaft suchen, jemanden, bei dem
alles zusammenläuft, man würde Bürger-
meister Jacob finden.
Jacob war lange Mitglied der CDU. Seit
August 2017 ist er bei der AfD. Seine Wäh-
ler hat das nicht verschreckt,
sie wählten ihn trotzdem.
Jacob ist in die AfD ein-
getreten, weil nach wie vor
zu viele Menschen unkon-
trolliert ins Land gelassen
würden, wie er sagt, weil die
Werte Deutschlands verlo-
ren gingen, weil er nichts
von Homosexuellen halte,
nichts von Klimahysterie,
weil »ständig diese krimi -
nellen Entgleisungen der
Flüchtlinge passieren«.
Flüchtlinge gibt es in Wei-
ra nicht, Homosexuelle, das
sagt er selbst, hat Jacob
noch keine gesehen, auch
keine Windräder. Ohnehin
gibt es in Weira nicht allzu
viel, aber die AfD, die ist
schon da.
Die rechte Partei ist in
Ostdeutschland angelangt,
wo sie seit ihrer Gründung
hinwollte: mitten im Alltag
der Kommunen und in der
Lebenswirklichkeit der Bür-
ger. In gut sechs Jahren eroberte sie im
Osten einen nicht unerheblichen Teil der
Zivilgesellschaft und ist dort kaum mehr
wegzudenken. Sie ist so tief in der Mitte
der Gesellschaft verankert, wie es Repu-
blikaner, NPD, Piraten und die Grünen
nie geschafft haben.
Einer Infratest-Umfrage von vorvergan-
gener Woche zufolge würde sich die AfD
bei einer sofortigen Bundestagswahl in
den fünf ostdeutschen Ländern gerade ein
Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU lie-
fern, sie liegen bei 22 und 23 Prozent. Bei
den Kommunalwahlen im Mai holte die
AfD in mehreren Gemeinden über 30 Pro-
zent, zog in fast jedes Lokalparlament ein,
für das sie kandidiert hatte, in vielen Ge-
meinden stellt die AfD die größte Fraktion.
Die Partei schöpft ihre Kraft im Osten aus
den Kommunen.
Wenn in Sachsen und Brandenburg am
- September die Landtage gewählt wer-
den, in Thüringen im Oktober, besteht in
allen drei Ländern eine reelle Möglichkeit,
dass die AfD die meisten Stimmen holt.
Mit Protestwillen ihrer
Anhänger allein ist dieser Er-
folg nicht mehr zu erklären.
Politiker der AfD sind in
den Städten und Dörfern
überall zu finden. Sie sind
der Fußballtrainer der Ju-
gendmannschaft, die Zahn-
ärztin in der Innenstadt, der
bürgerliche Unternehmer,
sie engagieren sich im Kar-
nevalsverein und bei der
freiwilligen Feuerwehr. Die
tiefe Verwurzelung zu er-
kennen ist wichtig, wenn
man verstehen will, warum
die AfD im Osten längst zur
Volkspartei geworden ist.
Es ist nicht so, dass die
ostdeutsche Zivilgesellschaft
der AfD das Feld in den ver-
gangenen Jahren einfach so
überlassen hätte. Es gibt
zahlreiche Initiativen gegen
Rassismus, die sich mit den
Rechtspopulisten auseinan-
dersetzen. Es gibt Politiker
anderer Par teien, die dage-
genhalten. Und ab und an gibt es auch
Gegenproteste.
Doch in vielen Orten und Städten ist
die rechte Partei inzwischen so mächtig,
dass sich die Lokalpolitiker lieber mit ihr
arrangieren, anstatt sie zu bekämpfen. Da
wird kooperiert, man spricht sich über Pos-
ten ab, Anträge werden abgestimmt.
Die kategorische Ablehnung der AfD,
die CDU-Parteichefin Annegret Kramp-
Karrenbauer von den Mandatsträgern
ihrer Partei erwartet, funktioniert kaum,
wo es um Kinderspielplätze, Einkaufszen-
tren oder Energieversorgung geht. Der
Satz des bayerischen Ministerpräsidenten
Markus Söder (CSU), dass man mit Politi-
kern der AfD noch nicht mal einen Kaffee
trinken soll, wird im Osten weggelacht.
Und einfach zusammen Bier getrunken.
Wie tief also ist die AfD im Osten ver-
ankert? Wer sind die Menschen, die sich
14 DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019
Deutschland
Sie sind schon da
DemokratieIn den drei ostdeutschen Bundesländern,
in denen bald gewählt wird, ist die AfD längst Volkspartei, sie
könnte auf dem ersten Platz landen. Woher schöpft
die Partei ihre Kraft? Eine Spurensuche in fünf Gemeinden.
AfD-Mandatsträger
Zahl der Sitze
BRANDENBURG
Landtag Kreistage und
Stadtverordneten-
versammlungen*
SACHSEN
Landtag Kreistage und
Stadträte*
THÜRINGEN
Landtag Kreistage und
Stadträte*
*der kreisfreien Städte
8
von 88
153
von 938
9
von 126
252
von 1102
7
von 91
177
von 1022