er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

in Ostafrika endlos sein kann. Nach
mehreren Stationen in Hessen landete er
2014 in Wächtersbach, einer Kleinstadt mit
12 000 Einwohnern im Main-Kinzig-Kreis,
rund 50 Kilometer östlich von Frankfurt.
Inzwischen ist er als Flüchtling anerkannt.
Es fällt ihm nicht leicht, über das Erlebte
zu reden. Er erzählt stockend, mit leiser
Stimme. Was er sagt, kann man nur be-
dingt überprüfen. Der Täter Roland K.
ist tot. Die Generalstaatsanwaltschaft in
Frankfurt am Main ermittelt, will sich aber
zu Details nicht äußern.
Den Montagmorgen vor dem Angriff,
so erzählt es Bilal M., verbrachte er in ei-
nem Ausbildungszentrum. Vor einiger Zeit
habe er seine Arbeit in einem Unterneh-
men, das Dachfolien herstellt, verloren.
Deshalb habe die Arbeitsagentur ihm den
Kurs vermittelt, damit er seine Berufsaus-
sichten und auch sein Deutsch verbessert.
Die Wohnung, in der er mit seiner Frau
und der zehn Monate alten Tochter lebt,
liegt nur einige Minuten von dem Ausbil-
dungszentrum entfernt. Deshalb wollte Bi-
lal M. wie gewöhnlich in der Mittagspause
zum Essen nach Hause.
Doch plötzlich habe vor ihm ein Auto
angehalten, etwa hundert Meter entfernt,
der Fahrer sei aber nicht ausgestiegen. Arg-
los sei er weitergelaufen. Als er an dem
Wagen vorbeiging, habe es plötzlich ge-
knallt. »Ich dachte, da ist irgendwo ein Au-
toreifen geplatzt.«
Doch es war der erste von sechs Schüs-
sen, die Roland K. auf ihn abfeuerte, laut
M. aus dem rechten Autofenster. Eine Ku-
gel streifte den Eritreer am Kopf, eine an-
dere traf ihn in den Bauch.
Er rannte, erzählt Bilal M., und ver-
suchte, mehrere Autos zu stoppen. Nie-


mand habe angehalten. Irgendwann sei
er gestürzt, habe sich wieder aufgerap-
pelt, sei weitergelaufen. Schließlich habe
er ein Firmengebäude in der Nähe er-
reicht. Dort seien Menschen auf ihn auf-
merksam geworden und hätten einen Not-
arzt gerufen.
»Ich rief noch meine Frau an«, erzählt
er. »Mit letzter Kraft.« Sie solle heute nicht
auf ihn warten, er habe Kopfschmerzen
und fahre ins Krankenhaus. Sie solle mit
seinem Portemonnaie nachkommen. »Ich
wollte nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
Als sie nichts ahnend eintraf, wurde ihr
Mann gerade notoperiert.
Roland K. fuhr nach der Tat in seine
Stammkneipe im Nachbarort Bieberge-


münd und erzählte den Gästen und dem
Wirt, was er getan hatte. Keiner der An-
wesenden rief die Polizei. So haben es die
Ermittler rekonstruiert. Einige Zeit später
stieg K. wieder in sein Auto, wählte den
Notruf und berichtete vom Anschlag auf
Bilal M. Das Telefonat wurde automatisch
aufgezeichnet. Anschließend erschoss er
sich mit einem Revolver.
In einem Abschiedsbrief, den man in
seiner Wohnung fand, soll der arbeitslose
Lkw-Fahrer über sein Rückenleiden ge-
klagt und geschrieben haben: Wenn er
schon gehen müsse, nehme er jemanden
mit in den Tod – und erweise damit dem
Steuerzahler einen Dienst. Beschwert war
das Schreiben mit einem Koppelschloss mit
Hakenkreuz und dem Motto der SS: »Mei-
ne Ehre heißt Treue« (SPIEGEL31/2019).
Bilal M. überlebte schwer verletzt. Be-
kannte organisierten eine Mahnwache.
Einige Tage später zogen rund 250 Men-
schen durch den Ort und demonstrierten
gegen Rassismus und rechten Terror. Hes-
sens Ministerpräsident Volker Bouffier
(CDU) kündigte seinen Besuch an – sagte
aber nach dem tödlichen Bahnsteig-An-
griff in Frankfurt ab. Man suche einen Er-
satztermin, der nun in den nächsten Tagen
stattfinden soll. Bilal M. wurde kürzlich
aus dem Krankenhaus entlassen.
Keine Stunde nach dem Gespräch mit
dem SPIEGEL hatte er Besuch von Polizis-
ten bekommen. Ob er den Frankfurter
Täter Habte A. kenne, wollten sie wissen.
Der sei doch auch Eritreer. Könnte er so
gehandelt haben, um M. zu rächen? Inzwi-
schen deutet vieles darauf hin, dass Habte
A. psychisch krank ist und unter Verfol-
gungswahn leidet. Einen Zusammenhang
scheint es nicht zu geben.
Bilal M. kann seit den Schüssen nicht
mehr schlafen. Wegen der Schmerzen,
einerseits. »Aber auch ohne die Schmer-
zen wären die Gedanken da«, fügt er hin-
zu. Er kann sich nicht vorstellen, wieder
ohne Begleitung rauszugehen. Er und
seine Frau überlegen, aus Wächtersbach
wegzuziehen. Auch andere Eritreer, die in
Wächtersbach wohnen, würden sich aus
Angst vor Angriffen nicht vor die Tür trau-
en, erzählt der Bruder.
Hasst Bilal M. den Attentäter? »Wie
kann ich ihn hassen? Ich kenne ihn nicht«,
sagt er. Hat er sich vorher in Deutschland
sicher gefühlt? »Natürlich«, sagt er. »Wir
dachten, hier passiert so was nicht«, er-
gänzt sein Bruder. Gab es nie rassistische
Beleidigungen? »Wir sind beschimpft wor-
den, ja. Oder jemand zeigt einem mal den
Stinkefinger. Aber dann denkt man: Die
sind bestimmt besoffen«, sagt Bilal M.
»Das ist normal.« Die Gesichter in der
Runde zeigen, wie quälend diese Norma-
lität sein kann. Laura Backes
Mail: [email protected]

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Er kann sich nicht
vorstellen,
wieder ohne Begleitung
rauszugehen.

SPIEGEL GESCHICHTE
SAMSTAG, 10. 8., 20.15 – 21.00 UHR | SKY

Hitlers Superschiff –
Expedition in der Ostsee
Im Jahr 2006 stoßen Arbeiter einer
Ölfirma in der Ostsee unvermutet
auf das Wrack des ersten und einzi-
gen Flugzeugträgers der Nazis.
Mithilfe exklusiven Archivmaterials,
moderner Rekonstruktionen und auf-
wendiger Tauchgänge in 80 Meter
Tiefe erzählt die Doku die Geschich-
te der »Graf Zeppelin«.

TERRA X
SONNTAG, 11. 8., 19.30 – 20.15 UHR | ZDF

Geheimnisse auf dem
Meeresgrund
Etwa drei Millionen Wracks liegen
auf dem Grund der Gewässer
unseres Planeten. Sie sind durch
Plünderer und vom biologischen
Verfall bedroht. Unterwasserarchäo-
loge und Forschungstaucher
Florian Huber hat es sich zur Auf -

gabe gemacht, die Wracks zu schüt-
zen und ihre Geschichten zu re -
konstruieren. Die Dokumentation
folgt dem Wissenschaftler auf seiner
Reise rund um den Globus, liefert
spannende Einblicke in die Unter-
wasserarchäologie und präsentiert
ebenso vielfältige wie spektakuläre
Aufnahmen.

SPIEGEL TV
MONTAG, 12. 8., 23.25 – 0.00 UHR | RTL

Die Baby-Bosse – Das neue
Gesicht der italienischen Mafia
Nach einer großen Verhaftungswelle
Anfang der Nullerjahre hat sich vor
allem die Camorra in Neapel radikal
verjüngt. Anstelle der alten Paten
sind nun junge Mafiosi an der Macht.
Sie sind häufig noch brutaler und
unberechenbarer als ihre Vorgänger.
Eine einzigartige Filmdokumen -
tation über den Kampf gegen die
»Baby-Mafia«.

DR. FLORIAN HUBER
Forscher Huber vor der Insel Mauritius
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