er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

Wirsching, 60, lehrt Neueste Geschichte
an der Ludwig-Maximilians-Universität
München und ist Direktor des Instituts für
Zeitgeschichte.


SPIEGEL:Herr Wirsching, drei Wochen
vor den Landtagswahlen in Sachsen und
in Brandenburg sind die beiden traditio-
nellen Volksparteien in der Wählergunst
bundesweit auf zusammen unter 40 Pro-
zent abgesackt. Was machen CDU/CSU
und SPD falsch?
Wirsching:Die Ursachen der Erosion
gehen zurück in die Achtzigerjahre. Die
Parteien standen damals vor der Heraus-
forderung eines gewaltigen wirtschaft -
lichen, sozialen und kulturellen Struktur-
wandels – seit den Siebzigern mit Haus-
haltsdefiziten und hoher Arbeitslosigkeit.
Als Reaktion hierauf haben die Union
unter Helmut Kohl wie auch die SPD –
jede für sich und wenig unterscheidbar –
ein Programm durchgezogen, das beim
Wähler zu Enttäuschungen geführt hat.
Mit dem Beginn der Globalisierung wurde
den Bürgern bei sinkenden Reallöhnen ein
enormer Anpassungsdruck abverlangt.
SPIEGEL:Sie übertreiben. Deutschland
hatte in den Neunzigerjahren fast fünf Mil-
lionen Arbeitslose, heute herrscht nahezu
Vollbeschäftigung. Eine über ein Jahrzehnt
florierende Wirtschaft hat einen Wohl-
standsschub ausgelöst.
Wirsching:Ob das so weit her ist mit dem
Wohlstandsschub, bezweifle ich. Jeden-
falls ist es ein Schub, der längst nicht bei
allen angekommen ist und die soziale
Ungleichheit verstärkt hat. Was dagegen
alle erfahren haben, ist der Preis der
Moder nisierung. Den Menschen werden
Zumutungen abverlangt, die sie nicht so
gerne haben. Ihnen wird etwa gesagt: Wir
leben in einer Wissensgesellschaft, also
werde besser, mach dich fit, stell dich
dem Wettbewerb, unterwirf dich einem
lebenslangen Lernen. Und rechne nicht
damit, deinen Beruf bis zur Rente ausüben
zu können.
SPIEGEL:Das ist immer noch aktuell.
Wirsching:Eben. Seit mehr als 30 Jahren
hören die Beschäftigten diesen Imperativ:


»Du musst deine Employability sichern.«
Alle Studien zeigen, dass dieser dauerhafte
Druck in der Privatwirtschaft zugenom-
men hat. Und inzwischen besteht er auch
im staatlichen Sektor.
SPIEGEL:Die Globalisierung ist keine Er-
findung der Union oder der Sozialdemo-
kratie. Was hätten denn Kohl oder SPD-
Chef Hans-Jochen Vogel tun sollen?
Wirsching:Die Frage ist eher, was die Par-
teien getan haben. Sie haben ganz über-
wiegend einer neoliberalen Fortschritts-
ideologie das Wort geredet. Tatsächlich
gab es Ende der Achtzigerjahre einen grö-
ßeren Fortschrittsoptimismus als Anfang
des Jahrzehnts.
SPIEGEL:Wo war da das Problem?
Wirsching:Die Modernisierung ging ein-
her mit der Privatisierung und der Dere-
gulierung der Märkte, vorgedacht von der
Chicago School des Wirtschaftswissen-
schaftlers Milton Friedman. »Nichts funk-
tioniert besser als der freie Markt«, das
war die Losung. Institutionen der staat -
lichen Daseinsvorsorge sollten sich dem
Wettbewerb stellen oder privatisiert wer-
den. Zugleich revolutionierten sich die in-
ternationalen Finanzmärkte.

SPIEGEL:Sie beschreiben eine Entwick-
lung, von der nicht nur Deutschland,
sondern viele westliche Staaten erfasst
wurden.
Wirsching:Natürlich, es war ein inter-
und transnationaler Prozess, der damals
stark von Großbritannien und den USA,
von Margaret Thatcher und Ronald Rea-
gan, ausging. Aber in ganz Westeuropa
mussten Länder in den Achtzigerjahren
mit Krisensymptomen umgehen, mit
Haushaltsdefiziten und Massenarbeits -
losigkeit. Und in diesem Moment betraten
Wirtschaftstheoretiker und vor allem Un-
ternehmensberater die Bühne und sagten:
Wir brauchen mehr Effizienz, mehr Wett-
bewerb, wir haben die Instrumente, um
die Krise zu bewältigen. Auf so was hören
Politiker sehr gern. Egal, welcher Partei
sie angehören.
SPIEGEL:Sie meinen, die alte Bundes -
republik befand sich in den Klauen von
Unternehmensberatern?
Wirsching:Schon in den Achtzigerjahren
stieg der Einfluss von Roland Berger,
McKinsey, der Bertelsmann Stiftung sowie
anderen Propheten des neuen Wett -
bewerbs. Und deren Denken breitete sich
rasant aus. 1989 ging es los mit der Priva-
tisierung der Telekommunikation. In den
Neunzigerjahren folgte die Deutsche Bun-
desbahn, und es begann die Privatisierung
des Gesundheitssystems.
SPIEGEL:Verdienten diese verkrusteten
Systeme nicht eine marktwirtschaftlich
orientierte Modernisierung? Deutschland
galt als überreguliertes Land, später sogar
als der kranke Mann Europas.
Wirsching:Ich sehe einen Unterschied
zwischen dem Welthandel und der staat -
lichen Daseinsvorsorge. Das eine kann
sich der Globalisierung nicht entziehen,
das andere sollte eine Gemeinschaftsauf-
gabe bleiben. Nehmen Sie die Bundes-
bahn, die auf Rendite getrimmt wurde und
die Zuverlässigkeit ihres Services verloren
hat. Ähnliches gilt für die Gesundheit:
Krankenhäuser, die von Kommunen oder
Kirchen bislang gemeinnützig betrieben
wurden, wurden an private Unternehmen
verkauft. Wo Kliniken früher keine Gewin-

36 DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019


Deutschland

»Mehr Freiheit kann auch mehr


Ungleichheit bedeuten«


SPIEGEL-GesprächDer Historiker Andreas Wirsching sieht die Ursprünge für die Krise von Union
und SPD in deren neoliberaler Politik in den Achtziger- und Neunzigerjahren: Globalisierung,

Privatisierung und die Wiedervereinigung hätten den Bürgern zu große Zumutungen beschert.


HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
Geschichtsprofessor Wirsching
»Gravierende Verlusterfahrung«
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