er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
S

eit dem Altertum stellen die Men-
schen Eisen nach demselben Prin-
zip her. Sie bringen Erz und Kohle
in einem Ofen zusammen, bei
mehr als tausend Grad wird dem Gemenge
der Sauerstoff entzogen. Übrig bleibt Ei-
sen, heiß und flüssig. Und Kohlendioxid,
unsichtbar und schädlich.
Drei Jahrtausende später neigt sich die-
se Ära dem Ende zu, aus Gründen des Kli-
maschutzes: Bald könnte Wasserstoff den
Part der Kohle übernehmen. Wie das geht,
lässt sich bei der Salzgitter AG in der »VR-
Cave« besichtigen, der Virtual-Reality-
Höhle. In einem fensterlosen Raum fliegt
der Besucher, ausgestattet mit einer 3-D-
Brille, durch das Stahlwerk der Zukunft.
Am Horizont sieht er, wie sich Wind -
räder drehen, aus dem Strom wird Wasser -
stoff erzeugt. Dann zoomt er sich auf eine
Anlage hinauf, mehr als hundert Meter
hoch, in der das Erz mithilfe des Wasser-
stoffs in sogenannten Eisenschwamm
gespalten wird. Und schwebt schließlich
hinunter zum Lichtbogenofen, aus dem
rot glühend das Eisen herausfließt. Als
Abfallprodukt aus diesem Prozess entsteht
nicht CO², sondern: sauberes Wasser.
Die Salzgitter AG, 25 000 Beschäftigte,
9,3 Milliarden Euro Umsatz, ist bekannt
als schwarzer Riese. Der Stahlkonzern ge-
hört zu den größten Verursachern von
Treibhausgasen hierzulande. Rund acht
Millionen Tonnen Kohlendioxid stößt er
im Jahr aus, das ist ein Prozent sämtlicher
Emissionen in Deutschland. Ausgerechnet
dieses Unternehmen hat sich vorgenom-
men, Stahl in Zukunft grüner herzustellen:
ohne Kohle, ohne Hochofen, ohne diese
Riesenmengen an Schadstoffen. Aus dem
guten Willen sind präzise Pläne geworden.
»Wir stehen vor derselben Herausforde-
rung wie die gesamte Gesellschaft«, sagt
Salzgitter-Projektleiter Volker Hille: »Sie
lautet: »Ändert euch vollständig!«
Dieser Imperativ avanciert zum neuen
Mantra am Standort Deutschland. In den
Neunzigerjahren wollten die Betriebe in
erster Linie billiger werden. Dann be-


schleunigte die Globalisierung das Tempo:
Das neue Ziel hieß Internationalisierung.
Neuerdings aber gewinnt der schonende
Umgang mit natürlichen Ressourcen Prio-
rität – und plötzlich beschäftigen sich
selbst Dreckschleudern aus der Schwer -
industrie damit, ihre Abläufe und Liefer-
ketten umzustellen: Alle setzen auf grün.
Die Betriebe überbieten sich gegenseitig
im demonstrativen Bemühen, ihre Fabri-
ken in den kommenden Jahren zu dekar-
bonisieren. Salzgitters Wettbewerber Thys-
senkrupp will 2050 klimaneutral sein, Mer-
cedes hat als Zielmarke das Jahr 2038
ausgegeben, Bosch peilt sogar an, schon
im kommenden Jahr so weit zu sein.
Bei den Bekundungen mag eine Menge
PR dabei sein, doch der Veränderungswille

ist ernst gemeint. Es ist der ökonomische
Druck, der die Manager antreibt. Denn
sonst, so fürchten sie, laufen ihnen die Kos-
ten für Energie und Umweltschutz davon.
In den vergangenen drei Jahren haben
sich die Preise für Verschmutzungsrechte
auf knapp 29 Euro pro Tonne CO²fast ver-
fünffacht. Die Anforderungen aus dem eu-
ropäischen Emissionshandel treffen die
deutsche Wirtschaft mit ihrem ausgepräg-
ten Industriesektor besonders stark und
zu einem Zeitpunkt, da die Konjunktur
ohnehin an Schwung verliert.
In der nächsten Handelsphase, von 2021
bis 2030, wird die EU-Kommission die
Zertifikate weiter verknappen und somit
verteuern, für manchen Betrieb mag sich
dann die Existenzfrage stellen. »Irgend-
wann könnte es mit der klassischen Stahl-
herstellung in Deutschland zu Ende sein«,
warnt Salzgitter-Manager Hille, »wenn wir
nichts unternehmen.«

Passieren muss etwas: weil ohne eige-
nen Stahl, Kunststoff oder Zement am In-
dustriestandort Deutschland nicht mehr
viel laufen würde. Weil nach der Weltkli-
makonferenz vor vier Jahren in Paris ver-
einbart wurde, dass Deutschland seine
Emissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent
gegenüber 1990 reduziert. Weil viele In-
vestoren den CO²-Fußabdruck eines Un-
ternehmens in ihre Kaufentscheidungen
einfließen lassen. Und weil der Druck der
Gesellschaft, gerade der jungen Genera -
tion, und der Politik immer stärker wird: Im
September will die Bundesregierung über
ein Paket zum Klimaschutz entscheiden.
Die Industrie ist immerhin für mehr als
ein Fünftel der Treibhausgasemissionen
hierzulande verantwortlich; den größten
Anteil daran trägt der Eisen- und Stahlsek-
tor, gefolgt von der Raffineriewirtschaft,
der Zementindustrie und dem Chemiege-
werbe. Seit 1990 haben die Branchen zwar
manches unternommen, der CO²-Ausstoß
ist in 25 Jahren um ein Drittel zurückge-
gangen. Allerdings ist dieser Fortschritt
auch der Abwicklung der DDR-Schwer -
industrie geschuldet. Seitdem ist jede Ver-
besserung ein mühsames Unterfangen.
Die Unternehmen modernisieren die
Produktionsprozesse, sie verschlanken die
Abläufe in den Fabriken. Sie unternehmen
viele kleine Schritte.
Bei BASF, dem weltgrößten Chemie-
konzern mit Sitz in Ludwigshafen, ist
das geübte Praxis. Dort erstreckt sich ein
Labyrinth aus hundertfach gewundenen,
grauen und gelben Röhren, aus riesigen
Zylindern und metallenen Kästen: Die so-
genannten Steamcracker I und II bilden
das Herz von BASF. Die Anlage spaltet
Rohbenzin unter Zugabe von Wasser-
dampf bei 840 Grad Celsius in Basis -
chemikalien auf. Daraus werden so unter-
schiedliche Produkte wie Mülltonnen und
Nadelfilzteppiche hergestellt. Oder auch
Kaugummi.
Inmitten dieses Gewirrs steuert eine
Handvoll Menschen in einem Raum ohne
Tageslicht die Megamaschine. Sie beob-

62 DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019


sumenten ihr Verhalten ändern können, welche
Unter nehmen wirklich umdenken und was die
Politik tun muss. Welche Ideen gibt es, Ökologie
und Ökonomie zusammenzudenken?

Nachhaltig leben(V) Der Klimawandel ist zur
entscheidenden politischen und ökonomischen
Frage geworden. Der SPIEGEL widmet dem Thema
deshalb eine Sommerserie: Wir fragen, wie Kon -


Der grüne Imperativ

EmissionenDie deutsche Industrie sucht nach Wegen, um den CO
²
-Ausstoß zu senken. Sie trimmt
ihre Fabriken auf Effizienz. Das Ziel: zum Leitmarkt bei Clean Tech zu werden.

Für echte Sprünge
beim Klimaschutz
müssten die Unternehmen
kühner denken.
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