Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

D


as Klavierintro ist viel zu lang, so-
dass die überraschend helle Stimme
des Sängers erst einsetzt, wenn man
gar nicht mehr damit rechnet. Und dann
beginnt der Song auch noch mit einer
cineastischen Referenz – »On a morning
from a Bogart movie« –, die immer absur-
der wird, je mehr man darüber nachdenkt.
Es gibt schon gute Gründe, warum »Year
of the Cat« von Al Stewart ein Hit wurde,
und ebenso gute, warum er inzwischen
fast vergessen ist.
In Matthias Brandts Roman »Blackbird«
aber, da wird der Song gegen Ende noch
einmal vorgespielt. Der Junge, der sich das
Lied vielleicht gewünscht hätte, kann es
nicht mehr hören, seine Freunde spielen
es an seinem Grab und nutzen es zu ihrer
Entlastung, um über den schlechten Ge-
schmack des Toten zu lästern.
»Blackbird« ist die Geschichte vom Ver-
lust eines Freundes, vom Erwachsenwer-
den, und eine Ethnografie der vergessenen
Siebzigerjahre der alten Bundesrepublik
ist es auch. Wir erkunden diese Zeit, in-
dem wir dem Monolog von Morten Schu-
macher, einem 15-jährigen Gymnasiasten,
lauschen. Das ist mehr als ein Stilmittel,
sondern schon eine wesentliche Informa-
tion über das im Roman zentrale Motiv
des kommunikativen Versagens jener Zeit.
Bekannt geworden ist Matthias Brandt
als Schauspieler. Wie er selbst die Sech -
ziger- und Siebzigerjahre erlebt hat (und
dass er zudem der Sohn von Willy Brandt
ist), hatte er in seinem ziemlich erfolgrei-
chen Debüt »Raumpatrouille« erzählt.
Ähnlich wie in »Raumpatrouille« tun
sich die Erwachsenen in »Blackbird«
schwer, über die wichtigen Dinge zu reden.
Die Eltern lassen sich scheiden, aber das
können sie weder erklären noch auf ande-
rem Wege ausdrücken. Daraus entstehen
komische und beklemmende Szenen mit
Seufzen, versuchten Umarmungen und
unpassender Konversation. Geredet wird
schon, aber die Worte passen nicht recht
zu den Dingen, also mutiert Morten zum
permanenten Sprachkritiker: Als der Vater
ihm seine Freundin vorstellt, nennt er sie
seine »Lebensgefährtin«, und Morten
kommentiert denkend: »Ich hatte nur ge-

Matthias Brandt: »Blackbird«. Kiepenheuer & Witsch;
288 Seiten; 22 Euro.

dacht, dass ich dieses Wort nicht gerne für
jemanden benutzen würde, in den ich ver-
liebt war. Einen besseren Vorschlag hatte
ich allerdings auch nicht.« In Fragen der
Liebe und des Todes benutzen die erwach-
senen Zeitgenossen einen Jargon, der eine
zaghaft moderne Normalität suggeriert,
sauber wie Raufasertapete und stabil wie
Verbundsteine, aber nahezu sofort auch
enttäuscht.
Als der beste Freund von Morten
schwer erkrankt, wird die Unzulänglich-
keit der alltäglichen Sprache und der
zugrunde liegenden Gedanken offenbar.
Keine Religion und keine Ideologie bietet
einen Trost, die wesentliche Arbeit wird
im Verdrängen und Beschweigen geleistet.
Allein im Zimmer mit dem kranken
Freund, macht Morten eine Grenzerfah-

rung: Er kann ihn weder trösten noch
amüsieren, er vermag gar nicht mehr,
im Patienten noch seinen Freund zu er -
kennen.
Der Junge, der Teil seines Alltags und
selbstverständlicher Partner in allen Aben-
teuern war, der für sich selbst einen genau-
en Lebensplan entworfen und sogar Am-
selfelder-Flaschen für einen ersten Rausch
gebunkert hatte, der wurde zu einem Vor-
wurf, einer Bedrohung und einem Rätsel.
Die Krankheit des Freundes beendet die
verträumte Biederkeit von Mortens Schü-
lerleben.
Dabei gelingen Brandt hochkomische
Szenen, eine handelt von einem Kinobe-
such. Morten lädt ein Mädchen ein, in das
er sich spontan verliebt hat, mit ihm den
David-Hamilton-Film »Bilitis« zu schau-
en – noch so ein vergessenes Kulturgut der
Epoche. Aber sie bringt einen Austausch-
schüler mit, und die Sache entwickelt sich

anders, als Morten es geplant hat, und er
hat Mühe, seine Beobachtung in Worte zu
fassen. Er schaut also weg, dann wieder
hin – »als ob ich dem Augenblick die Ge-
legenheit geben wollte, seinen Fehler zu
korrigieren«.
Er tut sich schwer damit, eine eigene
Sprache zu finden. Daraus ergibt sich ein
gesteigertes Bewusstsein seiner selbst, aus
dem sich aber noch kein Selbstbewusstsein
entwickelt, sondern eine umfassende Kon-
fusion. »Ich musste dringend nachdenken.
Zuerst mal, worüber eigentlich.«
Nach dem Tod des Freundes erfahren
wir von einem Aufenthalt Mortens in einer
psychiatrischen Klinik, leider lesen wir
nicht, wie Morten das erlebt und erzählt.
Unter den wenigen Erwachsenen, die
sich um Vermittlung zwischen ihrer und

seiner Welt bemühen, ist der Sozialkun-
delehrer, der stolz ist auf sein stets offenes
Haus. Morten, der nach dem Tod des
Freundes unter Schock steht, wird nicht
abgewiesen, obwohl gerade ein Ehekrach
tobt. Morten erzählt ihm während des
abendlichen Besuchs nicht, dass sein
Freund und Mitschüler gerade gestorben
ist, sondern imitiert die ihn umgebenden
Erwachsenen und schweigt. Der Lehrer
redet umso mehr – und zwar über sein
Lieblingsthema, und das ist er selbst.
Weil »Blackbird« aus der Warte eines
Heranwachsenden erzählt wird, kommen
die große Politik und die brisanten gesell-
schaftlichen Fragen der Zeit nicht direkt,
sondern nur mittelbar vor. Dennoch liegt
hier eine meisterliche Rekonstruktion je-
ner Epoche vor, in der Popsongs so viel
erzählen mussten, weil die Leute so ratlos
waren. Nils Minkmar

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Kultur

Raufaserland


LiteraturDer Schauspieler


Matthias Brandt hat einen Roman


über die Sprachlosigkeit in
den Siebzigerjahren geschrieben:
»Blackbird«.

THOMAS IMO / PHOTOTHEK / IMAGO IMAGES
Autor Brandt: Umfassende Konfusion
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