Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

Am Ende konnte Scholz kaum anders,
als einzusteigen. Als auch noch Gesine
Schwan und Ralf Stegner ihre Kandidatur
verkündeten, erschien Scholz selbst Leu-
ten, die noch vor Kurzem kein gutes Haar
an ihm gelassen hatten, wie ein weißer Rit-
ter. Von der Erklärung, als Finanzminister
habe er für den Vorsitz gar keine Zeit, will
in seinem Lager niemand mehr etwas wis-
sen. Neue Lage, heißt es. Punkt.
Und trotzdem: Es gibt nach wie vor vie-
le Sozialdemokraten, die schlagen beim
Namen Scholz die Hände über dem Kopf
zusammen. Wenn der Hamburger Partei-
vorsitzender würde, glauben sie, dann kön-
ne sich die SPD gleich selbst aufgeben.
Dann dürfe sie das Wort »Erneuerung« nie
mehr in den Mund nehmen. Es sind vor
allem Funktionäre, die so denken und re-
den, Bundestagsabgeordnete, jene Sorte
Genossen also, bei der Scholz vor knapp
zwei Jahren bei seiner Wiederwahl als Par-
teivize gerade noch auf 59 Prozent kam.
Und ist es nicht wirklich so, dass diese
beiden kaum noch zusammenpassen,
Scholz und die Partei, deren Mitglied er
seit mehr als vier Jahrzehnten ist?
Die SPD träumt von Aufbruch, Scholz
ist irgendwie immer schon da gewesen.
Scholz liebt das Regieren, die SPD leidet
darunter. Er wirkt oft wie ein spröder Be-
amter, viele Sozialdemokraten sehnen sich
nach Leidenschaft. Und war es nicht Scholz,
der seine Partei mit Nahles ins schwarz-rote
Bündnis getrieben hat, aus dem viele Ge-
nossen nur noch rauswollen? Man könnte
zum Schluss kommen, dass diese Kandida-
tur zum Scheitern verurteilt ist.
Aber Scholz wäre nicht Scholz, wenn
er sich das nicht sehr genau überlegt hätte.
Er steht mittlerweile für Positionen, die
bestens in der Partei ankommen und sozial -
demokratische Urinstinkte bedienen. Er
will einen deutlich höheren Mindestlohn,
eine Rentengarantie bis 2040. Und wenn
man all die alten Vorurteile mal beiseite-
packt, dann steht nun ein Mann auf der
Bühne, der vielleicht doch besser passen
könnte, als viele meinen. Der die SPD, zu-
mindest kurzfristig, stabilisieren könnte.
Der Republik könnten wirtschaftlich
schwierige Zeiten bevorstehen, die Kon-
junktur kühlt sich ab. In solchen Zeiten
werden Politiker weniger nach ihrem Un-
terhaltungswert beurteilt als danach, ob
man ihnen Führung und gute Nerven zu-
traut. Lässt man das Chaos beim G-20-Gip-
fel 2017 in Hamburg außer Acht – Scholz
war damals Erster Bürgermeister –, dann
sind das Fähigkeiten, die selbst Scholz’
Gegner ihm zubilligen würden.
Bei vielen Parteifreunden mag Scholz
keinen leichten Stand haben, im Volk ist
er mit seinem Kämmererstil durchaus
popu lär. Und sein Wort als Vizekanzler
hat Gewicht. Wenn Scholz sich zur schwar-
zen Null äußert, bewegt das Märkte.


Noch etwas kommt hinzu: Würde
Scholz zum Parteichef gewählt, müsste
sich die SPD vor der nächsten Wahl gar
nicht erst mit der leidigen Frage herum-
schlagen, wer nun Kanzlerkandidat wird.
Das wäre dann automatisch Scholz. Zwei
Fliegen mit einer Klappe, auch das wäre
ein Vorteil, mindestens organisatorisch,
womöglich sogar strategisch.
Als Scholz vor einiger Zeit sagte, die
Chancen der SPD, stärkste Partei zu wer-
den, seien so gut wie lange nicht, wurde
er ausgelacht. Und falls zur nächsten Wahl,
nur mal theoretisch, die Kanzlerkandida-
ten Robert Habeck (Grüne) und Olaf
Scholz (SPD) anträten, dann sähe das tat-
sächlich erst mal nach einem klaren Punkt-
sieg für Habeck aus. Andererseits: Wem
von beiden würden die Leute wohl eher

zutrauen, in einer instabilen politischen
Großwetterlage gegen Donald Trump zu
bestehen, gegen Wladimir Putin? Dem
ehemaligen schleswig-holsteinischen Um-
weltminister oder dem Bundesfinanz -
minister, ehemaligen Arbeitsminister und
früheren Hamburger Bürgermeister?
Die Frage sei ja immer, so hat es ein
Scholz-Vertrauter einmal beschrieben, ob
man ruhig schlafen könne, wenn dieser
oder jener Kandidat im Kanzleramt sitze.
So lässt sich der Vorwurf an Scholz, zu-
weilen wie ein politisches Schlafmittel zu
wirken, sogar in eine Stärke umdeuten.
Aber noch steht er vor einem ganz an-
deren, viel konkreteren Problem: Wo ist
die passende Frau?
Natürlich könnte er theoretisch allein
antreten, die Doppelspitze ist nicht vorge-
schrieben. Aber das kann sich einer wie
er, der ohnehin als Vertreter der alten Welt
gilt, in diesen Zeiten kaum leisten. Und
Scholz’ Schwächen – das Alter, der Stil,

sein Politikverständnis – würden bei ei-
nem Alleingang erst recht betont. Seine
Gegner hätten es noch leichter, ihn als Ver-
körperung der SPD-Krise hinzustellen.
Eigentlich braucht er also eine Partnerin.
Sinnvoll wäre eine jüngere Frau, um über-
haupt eine Art Umbruch zu verkörpern.
Allzu jung und unerfahren dürfte seine
Tandempartnerin aber auch wieder nicht
sein. Schwesig wäre eine passende Kandi-
datin gewesen, auch Giffey. Bliebe aus die-
ser Generation noch Katarina Barley, die
ehemalige Justizministerin. Aber Barley
ist gerade erst ins Europaparlament ge-
wählt worden, hat ihr Privatleben umge-
schmissen und ist nach Brüssel gezogen,
um ihrem Partner näher zu sein, der in
Amsterdam wohnt. Ob sie abermals ihre
Pläne ändern würde? Fraglich.
Aber egal ob mit oder ohne Frau:
Scholz ist entschlossen. Das dürfte Bewe-
gung ins Bewerberfeld bringen. Scholz gilt
als klarer Befürworter der Großen Koali-
tion – wie reagieren die Gegner?
Nun werden sich die Blicke, wie schon
zu Beginn der Bewerbungsphase, noch ein-
mal auf Kevin Kühnert richten. Der 30-Jäh-
rige hat sich eine Kandidatur immer offen-
gehalten, zu Beginn sogar regelrecht damit
kokettiert, war dann aber über die Som-
merpause abgetaucht.
Durch Scholz’ Vorstoß dürfte der Druck
auf Kühnert immens wachsen, vor allem
in seinem eigenen Verband. Für viele Jusos
ist der Finanzminister geradezu ein Feind-
bild. Kann der Chef des SPD-Nachwuch-
ses einfach zuschauen, wie sein Gegenspie-
ler die Partei übernimmt? Wohl kaum. Zu-
dem gilt: Wenn Kühnert nicht springt,
kann er sich in nächster Zeit kaum noch
über den Kurs der Partei beschweren.
Und am Donnerstagabend macht dann
noch ein weiteres Kandidatenpaar seine
Bewerbung fix: Niedersachsens Innen -
minister Boris Pistorius und Sachsens In-
tegrationsministerin Petra Köpping mel-
den intern an, dass sie sich handelseinig
seien, sie wollen nun gemeinsam antreten.
Für das Wochenende haben sie laut Par-
teikreisen eine Pressekonferenz geplant,
und sie haben eine gemeinsame Er -
zählung, die gut in die Zeit passt: Ihr
Schwerpunkt dürfte auf den Themen Inte-
gration und innere Sicherheit liegen. Es ist
eine Bewerbung, die absolut ernst zu neh-
men ist.
Noch ist also nicht ausgemacht, wie
Scholz’ Abenteuer endet. Doch der Vize-
kanzler hatte schon immer die Fähigkeit,
selbst in scheinbar aussichtslosen Situatio-
nen Zuversicht zu verströmen. Im Klap-
pentext zu seinem Buch »Hoffnungsland«,
erschienen im Wahljahr 2017, heißt es:
»Wir haben allen Grund zur Zuversicht.«
Christoph Hickmann, Veit Medick,
Christian Teevs

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FLORIAN BOILLOT / DAVIDS
Innenpolitiker Pistorius
Absolut ernst zu nehmen
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