Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1
Später sagt einer, dass mal zwei schwule
Priesterkandidaten aus dem Borromaeum
geflogen seien, weil sie die neuen Semina-
risten angemacht hätten.
Einer der Priesteranwärter verschwin-
det mit zwei Frauen im Borromaeum, er
will ihnen das Haus zeigen. Nach einer
Weile geht in seinem Zimmer das Licht an.
»Ei, ei, ei, der Heuvelmann«, sagt Jan
Sienert. Ein Spaß, mehr nicht.
Um Mitternacht verabschiedet sich der
Regens ins Bett, auch René Streitenbürger
bleibt nicht mehr lange. Lukas Mey zieht
noch mit einigen Leuten in die Coeli-Bar.
Mey ist ein gemütlicher Kerl aus Ander-
venne im Emsland. An seiner Zimmertür
klebt die Stecktabelle aus dem »Kicker«,
am Regal hängt ein Wimpel des VfL Osna -
brück. Mey besitzt eine Dauerkarte, Steh-
platz Ostkurve.
Auf dem Gymnasium war der aktuelle
Hildesheimer Bischof sein Schulleiter. Mey
gehört zum Bistum Osnabrück, wo in die-
sem Jahr, wie schon 2017, kein Priester ge-
weiht wurde. Bevor er ins Priesterseminar
wechselte, hatte er acht Semester Theo -
logie studiert.
Die Zahl 3677 habe sich in sein Ge-
dächtnis gebrannt, sagt er. Sie lässt ihn
zweifeln. 3677 minderjährige Opfer ver-
zeichnet die Missbrauchsstudie der Deut-
schen Bischofskonferenz.
»Fünf Prozent aller Priester der Diöze-
sen waren Beschuldigte«, sagt Mey. »Das
sind verdammt viele. Ich muss mir jeden
Tag bewusst machen, dass ich Repräsen-
tant dieser Amtskirche bin, wenn ich den
Weg bis zur Weihe gehen sollte.«
Für Lukas Mey ist der Priester mehr als
nur der Zeremonienmeister in der Kirche.
Er ist Zuhörer, Therapeut, Trostspender.
Er fragt sich, ob er der Aufgabe gerecht
werden kann.
Ein Dienstagabend im Juni, im Kardi-
nal-von-Galen-Saal sitzen die Seminaris-
ten mit dem Regens im Stuhlkreis. Aus
Rom ist Ordensschwester Karolin Kuhn
angereist, sie arbeitet am Zentrum für Kin-
derschutz an der Päpstlichen Universität
Gregoriana. Eine Expertin für sexuellen
Missbrauch in der katholischen Kirche. Sie
will darüber reden, wie es den Kandidaten
geht, wenn sie in Sippenhaft genommen
werden. Welche Erfahrungen die Semina-
risten gemacht haben, will sie wissen.
Einer sagt, er müsse sich sogar von
Freunden dumme Sprüche anhören, nach
dem Motto: aber nicht auf die kleinen
Jungs schielen.
Ein anderer glaubt, Kindern aus dem
Weg gehen zu müssen.
Schwester Karolin verbindet ihren Lap-
top mit einem Beamer und wirft Statistiken
über sexuellen Missbrauch an die Wand.
Sie zeigt eine Liste mit den Symptomen
der Opfer: Depressionen, Schuldgefühle,
Panikattacken. Eine der nächsten Folien

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Seminaristen Sienert, Mey bei Stimmbildung: Zuhörer, Therapeut, Trostspender


Priesteranwärter Heuvelmann: »Vagabund der Sehnsucht«

Kandidat Streitenbürger: »Die Leute sehen uns als potenzielle Täter«
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