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Tod eines Projekts
LeitartikelDer Fall Hongkong: Westliche Werte kann der Westen nicht mehr garantieren.
S
ie wollen das, was Deutsche, Franzosen, Briten,
Amerikaner schon haben, Demokratie, Rechtsstaat,
Menschenrechte. Dafür kämpfen sie, mutig, uner-
müdlich. Ihr Anliegen ist das des Westens, aber sie
leben in Hongkong, weit weg, in China. Allein können sie
es kaum schaffen, aber wer hilft ihnen jetzt?
Gäbe es noch das »normative Projekt der beiden atlanti-
schen Revolutionen«, müsste der Westen die Demonstran-
ten kräftig unterstützen. Der Historiker Heinrich August
Winkler hat diesen Begriff geprägt. Die französischen und
amerikanischen Revolutionäre Ende des 18. Jahrhunderts
setzten Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte erst-
mals durch, wenn auch nur teilweise oder vorübergehend.
Aber von da an war ein Anspruch formuliert, die westlichen
Werte sollten die Norm sein,
nach innen wie nach außen.
Aber wer Normen nach außen
durchsetzen will, der braucht
Macht, die harte Macht von Waf-
fen und Wirtschaft und in diesem
Fall auch die weiche Macht
des guten Vorbilds. Auf beiden
Feldern steht der Westen nicht
gut da.
Das 19. Jahrhundert wurde
von den Briten dominiert, das
- zu einem großen Teil von
den US-Amerikanern. Die Bri-
ten dachten damals nicht an den
Export von Demokratie und
Menschenrechten, sie wollten an-
dere Völker unterwerfen, um sie
auszubeuten. Das gelang auch in
Teilen Chinas, Hongkong wurde
für mehr als 150 Jahre britische
Kolonie. Pax Britannica nannte
man das, obwohl das britische
Gebaren wenig mit Frieden oder
gar Menschenrechten zu tun hatte. Das normative Projekt
galt nur nach innen. Großbritannien wurde zur vorbild -
lichen Demokratie.
Die US-Amerikaner trugen das Projekt im 20. Jahrhun-
dert nach außen, zunächst vor allem durch den Präsidenten
Woodrow Wilson im Umfeld des Ersten Weltkriegs, erfolg-
reicher dann nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich erst
Westeuropa und später Osteuropa demokratisierten. Im
Jahr 2000 schien eine, relativ friedliche, Pax Americana
für große Teile der Welt zu gelten.
Das ist keine 20 Jahre her, aber es war eine ganz andere
Zeit, eine andere Welt. Seither scheiterte das normative
Projekt in Afghanistan, im Irak, beim Arabischen Frühling,
der zur syrischen Katastrophe führte. Der Westen griff mal
ein, griff mal nicht ein, das Ergebnis war fast immer fürch-
terlich. Spätestens in Foltergefängnissen wie Abu Ghuraib
oder Guantanamo verloren die USA auch die Macht des
Vorbilds.
Nun ist alles noch schlimmer, weil Donald Trump im
Weißen Haus sitzt. Bei diesem Präsidenten, der seine auto-
kratisch regierenden Kollegen aus China und Russland,
Xi Jinping und Wladimir Putin, so sehr bewundert, ist über-
aus fraglich, ob er sich selbst zum normativen Projekt be-
kennt, ob er Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte
wirklich schätzt. Die Nato, die Harte-Macht-Organisation
des Westens, hat er mit Zweifeln unterminiert. Nun fehlt
die Führungsmacht, die sich entschieden für die westlichen
Werte einsetzt.
Träumereien, dass Angela Merkel einen amerikanischen
Präsidenten in dieser Rolle ersetzen könnte, haben sich
nicht erfüllt. Mit ihrer Flücht-
lingspolitik zog sie zeitweilig im
linksliberalen Teil des Westens
solche Hoffnungen auf sich.
Aber Deutschland hat zu wenig
harte Macht, um eine führende
Position in der Welt einnehmen
zu können, und Merkel sichert
eher Exportchancen als west -
liche Werte, gerade gegenüber
China. Da hielt sie sich mit öf-
fentlicher Kritik bislang zurück.
Auch die Europäische Union,
eine Weiche-Macht-Organisa -
tion des Westens, hat weltweit
kaum Einfluss. Ihr fehlen die
Truppen, und sie kann seit dem
Brexit-Votum nicht mehr als
Vorbild dafür gelten, wie sich
Nationalismus dauerhaft über-
winden lässt. Damit ist der au-
ßenpolitische Teil des 230 Jahre
alten Projekts tot. In diesem
Zustand kann der Westen keine
Normen durchsetzen. Er wird in einigen Teilen der Welt
sogar ausgelacht, wenn er sie vorbringt. Kehrt lieber vor
der eigenen Tür, heißt es dann. Nicht zu Unrecht. Der
Rechtspopulismus bedroht in einigen Staaten des Westens
das normative Projekt sogar nach innen.
Was tun? Sich dem Gedanken fügen, dass sich die Pax
Sinica durchsetzen wird, die chinesische Weltordnung, die
sich nicht um Demokratie, Rechtsstaat und Menschen -
rechte scheren wird? Hongkong könnte ein Vorbote sein.
Das wäre ein schwerer Fehler. Wer nicht mehr fordern
kann, der kann immer noch werben, kann an die Vernunft
der Chinesen appellieren. Es ist insgesamt zu still im
Westen angesichts dessen, was gerade in Hongkong pas-
siert. Ein Garant für westliche Werte kann der Westen
im 21. Jahrhundert nicht sein, ein Anwalt aber schon.
Dirk Kurbjuweit
MANAN VATS
YAYANA / AFP
Das deutsche Nachrichten-Magazin
DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019
Festgenommener Demonstrant in Hongkong