Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

D


er Astrophysiker Adam Riess ist es
gewohnt, dass seinen Berechnun-
gen anfangs kaum jemand glaubt.
Im Jahr 1998 untersuchte Riess explodie-
rende Sterne am Himmel, sogenannte Su-
pernovae, und kam aufgrund seiner Aus-
wertungen zu dem Schluss: Das Univer-
sum dehnt sich nicht nur aus – sondern
auch noch immer schneller. Ein eklatanter
Widerspruch zur damaligen Lehrmeinung.
Riess behielt recht. Weitere Messungen
bestätigten seine Entdeckung. 2011 bekam
er zusammen mit zwei weiteren Forschern
den Physiknobelpreis.
Nun steht Riess, 49, Professor an der
Johns Hopkins University in Baltimore,
erneut im Zentrum eines Streits kosmi-
schen Ausmaßes. Es geht um die Hubble-
Konstante. Vereinfacht gesagt gibt sie an,
mit welcher Geschwindigkeit sich die Ga-
laxien voneinander entfernen. Für Astro-
physiker ist die Hubble-Konstante mehr


als eine Zahl. Sie steht für eines der größ-
ten Rätsel der Kosmologie: Was verbirgt
sich hinter der sogenannten dunklen Ener-
gie, die auf noch unerklärte Weise die Ex-
pansion des Universums vorantreibt?
Um die Hubble-Konstante zu bestim-
men, maßen Riess und seine Mitstreiter
Entfernung und Geschwindigkeit mehre-
rer naher Supernovae. Weil die untersuch-
ten Sternenleichen alle ähnlich hell leuch-
teten, ließen sie sich gut zur Entfernungs-
messung verwenden. Am Ende kam Riess
auf eine Hubble-Konstante von etwa
74 Kilometern pro Sekunde und Mega -
parsec*. Umgerechnet heißt dies: Zwei
Orte im Universum, die ein Lichtjahr von-
einander entfernt sind, streben pro Jahr
um etwa 700 Kilometer auseinander.
Dieser von Riess ermittelte Wert hat die
Kosmologen in eine tiefe Krise gestürzt.

*Ein Megaparsec entspricht 3,26 Millionen Lichtjahren.

Denn er passt nicht zu vielen anderen
Messdaten und vor allem nicht zu den phy-
sikalischen Gesetzmäßigkeiten, welche die
Entwicklung des Universums erklären,
dem sogenannten Standardmodell der
Kosmologie. Große Ratlosigkeit breitete
sich aus.
Insgeheim hofften viele Astrophysiker,
dass Riess an irgendeiner Stelle seiner Ana-
lyse einen Fehler gemacht hat. Klar habe
er auch an seinem Ergebnis gezweifelt,
sagt Riess: »Aber wir können nicht unsere
Daten ignorieren. Solange niemand darin
einen Fehler findet, müssen wir glauben,
was das Universum uns sagt.«
Nun hat das Universum erneut ge -
sprochen – und gibt wieder einmal Adam
Riess recht.
Der Astrophysiker erfuhr davon bereits
Anfang Juli bei einer Konferenz in Lindau
am Bodensee. Dort fand das alljährliche
Treffen von Nobelpreisträgern und jungen
Wissenschaftlern statt. Eigentlich sei es
dort weniger um neue Entdeckungen ge-
gangen, so Riess. Stattdessen gaben die
Preisträger Karrieretipps und debattierten,
inwiefern ihre Forschung die Welt verbes-
sern könne.
Einer der Nachwuchswissenschaftler
jedoch wollte Riess unbedingt auf seinem
Laptop eine kleine Präsentation zeigen.
Der Doktorand gehört einer Forschergrup-

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