Das Exit-Risiko
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(^46) WOCHENENDE 23./24./25. AUGUST 2019, NR. 162
In der SPD wiederum herrscht das Gefühl vor,
sich zwar bei vielen Themen durchgesetzt und da-
rüber hinaus fast alle Schlüsselressorts besetzt zu
haben – aber vom Wähler wieder mal nicht dafür
belohnt zu werden. „Wir haben viel umgesetzt,
aber trotzdem schwindet der Zuspruch für die
SPD. Das ist eine schwierige Situation für uns, kei-
ne Frage“, sagt die Ministerpräsidentin von Rhein-
land-Pfalz und derzeitige kommissarische SPD-Vor-
sitzende, Malu Dreyer im Interview mit dem Han-
delsblatt (Seite 51).
Wie sehr Performance und Erscheinungsbild der
Regierung auseinanderfallen, zeigt eine Untersu-
chung der Bertelsmann-Stiftung. Die Bilanz der jet-
zigen Koalition sei „rekordverdächtig“, so viele Vor-
haben habe sie schon umgesetzt. Auch zeigte die
Analyse, wie rot eingefärbt die Arbeit der Bundes-
regierung ist. An den 296 Vorhaben hat die SPD ei-
nen viel größeren Anteil als die Union. Die Untersu-
chung legte aber auch das Dilemma der Regierung
offen: Nur jeder zehnte Bürger ist der Überzeu-
gung, SPD und Union hätten ihre Versprechen ein-
gelöst, selbst unter den Anhängern der Regierungs-
parteien sind es nur 20 Prozent. „Die Große Koali-
tion verkauft sich unter Wert. Das
Regierungsbündnis kann beachtliche Ergebnisse
vorweisen, doch das kommt in der Öffentlichkeit
nicht an“, sagt der Politikwissenschaftler Oskar Nie-
dermayer.
Längst wird in der SPD durchgespielt, wie ein
Exit aus der Regierung konkret aussehen könnte.
Im Herbst will die Partei die bereits 2017 vereinbar-
te Halbzeitbilanz der Großen Koalition ziehen,
dann soll ein Parteitag über deren Fortsetzung ent-
scheiden. Vorher sollte noch der Bundeshaushalt
für 2020 beschlossen werden. Insider beobachten
aufmerksam, wie die Koalition auf eine Verabschie-
dung des nächsten Etats im November hinarbeitet.
Mit einem gültigen Bundeshaushalt kann die Union
leichter eine Minderheitsregierung bilden.
Die SPD, so die Theorie, könne sich ein Jahr in
der Opposition regenerieren, um dann bei einer
nur etwas vorgezogenen Wahl Anfang 2021 wieder
anzugreifen. Sogar wer welche Ministerien über-
gangsweise übernehmen könnte, haben Unions-
und SPD-Politiker schon durchgespielt. So könnte
Wirtschaftsminister Peter Altmaier sich parallel um
das Finanzressort kümmern, Gesundheitsminister
Jens Spahn um das Arbeitsministerium.
GroKo-Garant Scholz
Der Mann, der sich mit aller Macht gegen dieses
Szenario stemmt, verspeist am Dienstagabend Pas-
ta mit großzügigem Parmesanüberzug. Auf dem
Gartenfest des Bundesfinanzministeriums ist das
Interesse noch größer als sonst. Chefredakteure,
Promi-Ökonomen, Kulturschaffende beäugen im
Innenhof des Finanzministeriums jeden Schritt des
Gastgebers, des Mannes, der erst die SPD und
dann die Regierung retten will. Olaf Scholz wirkt
gelöst an dem Abend, zieht plaudernd von Tisch zu
Tisch und bleibt trotz der anstrengenden Wochen,
die vor ihm liegen, bis fast zum Schluss.
Einen halben Tag später sitzt Scholz mit seiner
Co-Kandidatin Klara Geywitz in der Bundespresse-
konferenz, um ihre Kandidatur offiziell zu verkün-
den. Der 61-Jährige nimmt in der Mitte des Podiums
Platz. Um gleich dem Eindruck entgegenzuwirken,
Scholz sei der Hauptdarsteller, ergreift die bundes-
weit bis dahin unbekannte brandenburgische Land-
tagsabgeordnete als Erste das Wort: „Olaf Scholz
kann viele Sachen unheimlich gut erklären. Ich
kann viele Sachen gut auf den Punkt bringen.“ Es
werde aber nicht so laufen, dass der eine die Welt-
politik kommentiere und der andere Unterbezirks-
parteitage besuche. Sie werde „nicht das dekorative
Salatblatt an seiner Seite“ sein. Was Scholz und Gey-
witz eint, ist ihre Haltung zur Großen Koalition.
„Wir stehen für eine SPD, die die Probleme löst. Das
kann man nur in der Regierung“, sagt Geywitz.
Mit dieser Auffassung stehen die beiden unter ih-
ren Mitbewerbern um den SPD-Vorsitz ziemlich
einsam da. Die meisten Teams, ob Gesine Schwan
und Ralf Stegner, die Parteilinken Hilde Mattheis
und Dierk Hirschel oder die Bürgermeister von
Flensburg und Bautzen, Simone Lange und Alexan-
der Ahrens, stehen sehr eindeutig für einen Aus-
stieg aus der GroKo. Karl Lauterbach und Nina
Scheer nutzen diese Forderung als fast schon wich-
tigstes Werbemittel für ihre Kandidatur.
Auch die Kandidaten, die in Bundes- und Lan-
desregierungen sitzen, bekennen sich nicht offen
zur Großen Koalition. Michael Roth, Staatsminister
im Auswärtigen Amt, vermeidet eine klare Festle-
gung. Bei Petra Köpping und Boris Pistorius, beide
Landesminister in Sachsen und Niedersachsen,
steht eine Positionierung noch aus. Im SPD-Partei-
vorstand soll Pistorius nach Handelsblatt-Informa-
tionen kürzlich gesagt haben, im Notfall könne
man die Koalition im Bund auch beenden.
Um all diesen GroKo-Gegnern und -Skeptikern
nicht allein das Feld zu überlassen, hat Scholz sich
in der vergangenen Woche doch noch für eine Kan-
didatur entschieden, nachdem er dies nach dem
Rücktritt von Andrea Nahles ausschloss. Das Amt
des Parteivorsitzenden sei wegen der existenziellen
Krise der SPD und des dadurch hohen Zeitauf-
wands nicht mit dem Ministeramt vereinbar, hatte
Scholz damals erklärt. Ein vorgeschobenes Argu-
ment. Ihm war klar: Nach Nahles lechzte die SPD
nach jemand Neuem an der Spitze. Er, der die Par-
tei gemeinsam mit Nahles gegen alle Widerstände
in die Große Koalition geführt hatte, verkörpert das
Establishment. Doch als sechs Wochen später noch
immer niemand aus der ersten Reihe der Partei sei-
ne Kandidatur erklärt hatte und der Parteivorsitz
vom Ex-Vorsitzenden Sigmar Gabriel schon mit ei-
nem „infektiösen Kleidungsstück“ verglichen wur-
de, trat Scholz doch noch an.
Er hat wenig zu verlieren. Gewinnt ein GroKo-
Gegner den Mitgliederentscheid, wäre Scholz sein
Ministeramt los und seine politische Karriere wohl
beendet. Das wäre ohne seine Kandidatur genauso
gewesen. Gewinnt er den Mitgliederentscheid, sind
die Chancen dagegen deutlich gestiegen, dass die
Koalition hält – und der Spitzenkandidat bei der
nächsten Bundestagswahl höchstwahrscheinlich
dann Olaf Scholz hieße.
Sicher, die 23 Regionalkonferenzen werden kein
Sparziergang für den spröden Bundesfinanzminis-
ter. Inzwischen halten fast alle Parteigrößen das
sechsstufige, sich über vier Monate hinziehende
Auswahlverfahren ebenso für einen Fehler wie die
beispiellose Vielzahl an Regionalkonferenzen. Auf
denen könnten sich die Kandidaten gegenseitig zer-
fleischen, fürchten Spitzengenossen. Insbesondere
Scholz dürfte Kritik auf sich ziehen – wodurch sich
die GroKo-Vorbehalte bei vielen Mitgliedern verfes-
tigen könnten. „Die SPD hat viel zu wenig aus den
Fehlern ihrer sozialdemokratischen Schwesterpar-
teien gelernt“, sagt der niederländische Politikwis-
senschaftler Rene Cuperus, der auch Mitglied der
sozialdemokratischen Partei der Niederlande ist.
So hätten die niederländischen Sozialdemokraten
ebenfalls vor einigen Jahren einen Mitgliederent-
scheid samt Regionalkonferenzen zwischen ihrem
Vizepremier und ihrem Fraktionsvorsitzenden ver-
anstaltet. Ergebnis: Der Vizepremier musste sich
vom eigenen Parteifreund anhören, was für ein un-
fassbar miserables Regierungsmitglied er eigentlich
gewesen sei. Die nächsten Wahlen gingen für die
Sozialdemokraten prompt schief.
In der SPD glaubt man dagegen weiter, die Suche
nach einem neuen Vorsitzenden von der Großen
Koalition trennen zu können. „Es geht nicht um die
Frage, was aus der Regierung oder aus mir als Fi-
nanzminister wird“, sagt Scholz. „Es geht aus-
schließlich um die SPD.“ Das sieht selbst Juso-Chef
Kevin Kühnert so: Alle Teams seien „gut beraten,
die Frage der Fortführung der Großen Koalition
nicht zum alleinigen Thema zu ma- ❯❯
Sachsens SPD-Chef Martin Dulig: Er galt als Wunderkind der ost-
deutschen SPD. Bei der anstehenden Wahl könnte das Ergebnis nun
laut Umfragen beschämend einstellig ausfallen.
imago images / Peter Endig
Brandenburgs Ministerpräsident
Dietmar Woidke (SPD):
Er kämpft, aber es wird eng.
imago images / Emmanuele Contini
Im Zeitgeist eines
grassierenden
Populismus war es für
die SPD Selbstmord,
wieder in eine Große
Koalition einzutreten.
Rene Cuperus
niederländischer
Politikwissenschaftler
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