Handelsblatt - 27.08.2019

(lily) #1
Viel zu kompliziert. Mobility Inside verspricht
den Reisenden eine einzige App mit einer einzigen
Buchungslogik. Start des Systems soll im Spät-
herbst sein. Ein Frankfurter kann dann mit seiner
RMV-App U-Bahn-Verbindungen in Köln suchen
oder Bus-Tickets für Stuttgart kaufen. Aber noch ist
es nicht so weit.
Das Problem ist die deutsche Kleinstaaterei: Mo-
bility Inside müsste über 40 Verkehrsverbünde
und mehrere Hundert Verkehrsbetriebe unter ei-
nen Hut bekommen, von der Großstadt Berlin und
ihrer BVG mit jährlich einer Milliarde Fahrgästen
bis zum Regionalverkehr im Westerwald für einige
Tausend Dorfbewohner. Dazu kommen sehr unter-
schiedliche technische Voraussetzungen. Einige
der Verkehrsbetriebe, lästert ein Insider, „wissen
nicht einmal, wo ihre Haltestellen sind“. Jedenfalls
nicht digital. Die Daten sind nicht aufbereitet, von
der Einführung einer App sind diese Unternehmen
Lichtjahre entfernt.

Die Kunden sind schnell überfordert
Start-ups sind da deutlich schneller. Fairtiq zum
Beispiel. Die App macht das Reisen in der Schweiz
zum Kinderspiel. Keine zeitraubende Suche mehr
nach Verbindungen und Preisen für Bahn, Bus und
Schiff. Einsteigen, App starten, umsteigen, ausstei-
gen, App stoppen. Die Sache hat allerdings einen
Haken: Fairtiq verkauft keine Hundetickets. Auch
Sparpreise lassen sich nicht buchen.
Aber selbst der Staat zeigt sich bei den Eidgenos-
sen kreativ. Die App SchweizMobil ist eigentlich ei-
ne Buchungsplattform für den „Langsamverkehr“,
wie es in der Eigenwerbung heißt. Karten
und Tipps für Wanderer, Fahrradfah-
rer oder Kanuten finden sich da-
rauf. Aber eben auch die Anreise
mit Bahn und Bus.
Aber will der Kunde das al-
les? Nils Hartgen, Geschäfts-
führer Vertrieb Fernverkehr
der Deutschen Bahn, hat da
seine Zweifel. Es komme auf
relevante Erweiterungen an,
sagt Hartgen. Jede Plattform
versucht sich deshalb zurzeit
mit einer eigenen Nutzerphiloso-
phie.
Die Deutsche Bahn hat sich beispiels-
weise entschieden, fürs Erste die deutschen
Nahverkehrsverbünde in den DB-Navigator zu inte-
grieren. Die Staatsbahn dreht damit das Prinzip
Mobility Inside der kommunalen Verkehrsbetriebe
um. Wer DB-Tickets kauft, soll auch gleich U-Bah-
nen und Stadtbusse dazu buchen können. Inzwi-
schen sind 29 Verkehrsverbünde dabei. Mit der Lo-
gik suchen und gleich buchen klappts allerdings
nicht immer so glatt wie erhofft.
Kein Wunder. „Noch experimentieren alle“, weiß
Wissenschaftler Sauter-Servaes, der an der ZHAW
School of Engineering forscht. Das bedeutet: Mobil
zu sein bleibt vorerst kompliziert. Wer reisen will,
muss zunächst herausfinden, welche Plattform ei-
gentlich was kann.

Täglich wächst das App-Angebot
Das ist nicht einfach. Denn das Angebot an Apps
und Mobilitätsdiensten wächst derzeit beinahe
täglich. Vor allem in Großstädten. Dort hoffen alle
Anbieter, auf ein Publikum zu treffen, das Neues
auch mal in der unausgereiften Beta-Version aus-
probiert. Und sie setzten natürlich auf Masse. Ber-
lin, Köln, München sind erste Adressen für App-
Entwickler. Und die 1,8-Millionen Einwohner-Elb-
metropole Hamburg hat sich selbst zum großen
Testlabor für moderne Mobilität erklärt. Schließ-
lich richtet die Hansestadt 2021 den weltgrößten
Mobilitätskongress „Intelligent Transport Systems“
(ITS) aus. Da wollen die Hamburger etwas vorzei-
gen.
Natürlich macht sich auch die digitale Weltmacht
Google breit, weil Nutzer die Suchmaschine ohne-
hin als erster Station für Reiseziele und Reisewege
ansteuern. Aber: Schafft es Google von der reinen
Informationsplattform zur Buchung? Das ist die
zentrale Frage für Omio-Finanzchef Jan Kemper.
Auch für seine Reiseplattform, gerade mal sechs

Jahre jung, gilt: Suchen sich Kunden auf Omio nur
Verbindungen, oder können sie auch gleich Tickets
für ihre Reisen mit Bahn, Bus und Flieger quer
durch Europa kaufen?
Anfangs war es gar nicht so einfach, Staatseisen-
bahnen und andere traditionelle Verkehrsunter-
nehmen davon zu überzeugen, Plattformen wie
Omio die Daten zu überlassen oder diese Start-ups
als Vertriebskanal zu akzeptieren. Inzwischen ha-
ben die Transporteure aber erkannt, dass neue
Plattformen auch neue Kunden bringen und weni-
ger Konkurrenten sind. Heute arbeitet Omio mit
800 Bahn-, Bus- und Fluggesellschaften in Europa
zusammen. Die weltweite Expansion der Plattform
ist eingeleitet. Deshalb hat sich GoEuro auch vor ei-
nem halben Jahr in Omio umbenannt.
Die Deutsche Bahn verkauft inzwischen sogar
über das Flugvergleichsportal Opodo Tickets für
die erste Klasse im ICE. Ihren eigenen Versuch
aber, neben dem Navigator eine „neutrale“ Reise-
plattform für Bahn, Bus und Flug aufzuziehen, hat
der Staatskonzern klammheimlich aufgegeben. Mit
großem Aufwand hatte er die Plattform Quixxit
aufgezogen. Der Erfolg war mäßig. Anfang Juli ist
Quixxit nun an die Schweizer Lastminute-Group
abgestoßen worden.
Dennoch sieht sich der Staatskonzern trotz
scharfer Konkurrenz durch junge und dynamisch
wachsende Plattformen in guter Position. Bahn-Ma-
nager Hartgen ist davon überzeugt, dass sich das
bunte Angebot an Mobilitäts-Apps auf Sicht stark
auf die bestehenden Player konzentrieren wird.
Dazu zählt er selbstredend die Deutsche Bahn. Die
Zahlen der Bahn scheinen dafürzuspre-
chen. 2018 verkaufte das Unterneh-
men 28 Millionen Handy tickets
und 52 Millionen Fahrkarten auf
Bahn.de. Gemessen an 148 Mil-
lionen Fernreisenden ist da al-
lerdings Luft nach oben. Kun-
denpotenzial, das auch ande-
re Apps gern heben würden.

Vorteil für die Etab-
lierten
Mobilitäts-Wissenschaftler Sau-
ter-Servaes sieht Unternehmen
wie die Staatsbahn in ihren Heimat-
ländern durchaus mit einem „Vertrau-
ensvorteil“. Aber: Staatskonzerne tun sich
schwer gegen Uber und Co., findet er. „Niemand
will heute mehr die Logik von Preiszonen verste-
hen. Die entscheidende Frage lautet, wer schafft
es, die größte Bequemlichkeit herzustellen?“
Vielleicht sind das am Ende weder Bahn-Naviga-
tor noch Uber oder ein pfiffiges Start-up. Denn be-
quemer als mit Alexa, Siri oder Cortana geht es ver-
mutlich nicht. Die Sprachassistenten von Amazon,
Apple und Microsoft könnten eines Tages beliebter
sein als jede noch so ausgefeilte Mobilitäts-App.
Alexa kann schon längst Bahnverbindungen su-
chen. Wird sie bald dem Reisenden erklären, bes-
ser den Flixbus zu nehmen oder in den Flieger von
Eurowings zu steigen, weil der ICE von Berlin nach
München sowieso Verspätung hat? Der Kunde
muss dann nur noch „buchen“ sagen. Und ab geht
die Reise.


Kommentar Seite 29



Reise-Apps


Mobilität für


die Tasche


In Berlin geht Jelbi ab


Für vier Millionen Berliner und 13 Millionen jähr-
liche Hauptstadt-Touristen soll Mobilität deutlich
einfacher werden. Seit einigen Wochen ist „Jelbi“
scharf geschaltet. Die Plattform der Berliner Ver-
kehrsbetriebe BVG basiert auf einer Entwicklung
des litauischen Start-ups Trafi. Die App soll eines
Tages alle Mobilitätsangebote der deutschen Me-
tropole verknüpfen, S-Bahn, Metro, Busse, Ta-
xen, Sharing-Dienste, Leihräder und was die ur-
bane Mobilität noch so an Transportalternativen
hervorbringt.
Jelbi übernimmt Routenplanung, Reservierung
und Bezahlung, versprechen die Macher. Die Ver-
kehrsmittel werden an sogenannten Hubs ge-
tauscht, ein erster befindet sich an der U-Bahn-
station Prinzenstraße mitten im Szenekiez Kreuz-
berg. Dort sollen Kunden von Bahn und Bus
einfach umsteigen können auf Fahrrad, Taxi oder
Leihwagen. Der größte Carsha-
ring-Anbieter der Bundes-
hauptstadt, „Share now“,
macht allerdings nicht mit. Al-
lerdings: Buchen lassen sich
die Verkehrsmittel noch nicht,
die Nutzer werden auf die
Plattformen der Anbieter wei-
tergeleitet.

Vilnius fährt Trafi


In der litauischen Hauptstadt
Vilnius können die Nutzer in
Echtzeit Informationen zu al-
len verfügbaren Verkehrsmitteln abrufen, über
die App buchen und natürlich auch bezahlen.
Nebenbei liefert die App Daten, die die Stadtver-
waltung als Grundlage für ihre Verkehrsplanung
nutzen kann. Eine Stadtkarte zeigt Nutzern die
Positionen der Busse samt Wartezeiten. Auch Ci-
tybikes und Car-Sharing-Autos sieht man auf dem
Display. Auswählen, antippen, bezahlen – fertig.

OV-Chipkaart made by Holland


Die Niederländer sind schon seit Langem mit ei-
ner Einheits-Chipkarte mobil, mit der sie Eisen-
bahnen, Busse und Schiffe, also den gesamten öf-
fentlichen Verkehr, nutzen können. Diese OV-
Chipkaart ist quasi der analoge Vorläufer einer
Mobilitäts-App. Kunden laden ein Guthaben auf
die Karte, sie können dort auch Zeitkarten hinter-
legen. Beim Einsteigen in ein Verkehrsmittel wird
kurz eingecheckt, beim Aussteigen ausgecheckt.
Besondere Regeln gelten für den Fall, dass ein
Nutzer vergisst, seine Fahrt mit der Chipkarte zu
beenden. Inzwischen gibt es auch eine dazugehö-
rige OV-App. Die allerdings ist nicht zum Buchen
geeignet, sondern nur zur Abfrage des Konto-
stands oder zur nachträglichen Kontrolle der Rei-
seroute.

Whim mobilisiert Helsinki


In der finnischen Metropole empfiehlt sich Whim
als Universal-App für Reisende. Das Programm ist
breit: Vom „pay as you go“, also der klassischen
Planungs- und Buchungsfunktion inklusive Be-
zahlen, reicht das Angebot bis zu Mobilitätspake-
ten. Beispielsweise Whim Unlimited, was unbe-
grenzte Nutzung aller öffentlichen Verkehrsmit-
tel in Helsinki einschließt, plus zeitlich und nach
Entfernung eingeschränkte Nutzung von Taxen,
Whim-Carsharing und Stadtfahrrädern. Der Ser-
vice ist auch nicht ganz preiswert: Zwei Preiszo-
nen um das engere Stadtzentrum kosten dann
pro Monat 499 Euro. Im britischen Birmingham
ist Whim als reine Buchungsplattform für den öf-
fentlichen Verkehr mit angeschlossener Reservie-
rung von Taxen und Mietwagen im Angebot. In
Antwerpen gibt es Whim Everyday für 55 Euro
pro Monat für den öffentlichen Verkehr plus Ta-
xi- und Bike-Pauschale.

Uber will


die Spinne


im Netz sein.


Thomas Sauter-Servaes
Mobilitätsforscher Hochschule
für angewandte
Wissenschaften Zürich

Jelbi auf
dem Handy:
Die Berliner
App über-
nimmt Rou-
tenplanung,
Reservie-
rung und
Bezahlung.

Jelbi, Whim


App Whim: Universal-
programm für Reisen-
de in Helsinki.

Unternehmen & Märkte
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DIENSTAG, 27. AUGUST 2019, NR. 164


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