152 BELLEVUE 5/2019
Glosse
STUTTGARTSPECIAL 5/2019
GOLD FÜR DIE ZWEIT-TERRASSE
K
ürzlich hat mich mein Nachbar, Bernhard, zum Stuttgarter Bahn-
hof gefahren. Bernhard ist Unternehmer und hat ein Schweine-
geld. Mit solchen Menschen sind wir Schwaben gern befreundet.
Wer weiß schon, was noch kommt. Außerdem ist er nett. Auf der Fahrt
zum Bahnhof fahren wir an einem Haus in bester Lage vorbei, und
Bernhard sagt: „Das gehört mir!“ „Welches?“ „Das da!“ „Das große?“ „Ja!
24 Wohneinheiten, insgesamt 1.735 Quadratmeter Wohnfläche!“
Das Gefühl, das diese Nachricht ausgelöst hat, kennen Sie si-
cher: Die anderen machen immer alles richtig. Es sind immer
die anderen, die zum richtigen Zeitpunkt Kryptowährun-
gen gekauft haben. Es sind auch immer die anderen,
die für 19,95 Euro nach Berlin fliegen. Mich
kostet das Ticket immer 325 Euro. Beim Ein-
checken kriege ich dann gesagt, dass ich
meinen Koffer extra bezahlen muss, weil
mein Ticket nur fürs Handgepäck gilt.
Bernhard hat meine Wunde so-
fort gespürt und genüsslich Salz
hinein gestreut: Er hat das
so clever finanziert, dass
die Mieteinnahmen ganz
genau Zins, Nebenkosten
und Tilgung decken. Er hat
mit dem Haus gar nichts zu
tun, in genau 20 Jahren ge-
hört es ihm. Darüber habe
ich lange nachgedacht.
Bernhard macht ein Haus glücklich,
mit dem er gar nichts zu tun hat und das
ihm erst in 20 Jahren gehört.
Wenige Tage später war ein Kollege vom WDR
aus Köln bei mir zu Besuch. Ich habe ihn nach dem Besuch zum Bahnhof
gefahren, und als wir an dem Haus vorbeigefahren sind, sagte ich: „Das
gehört mir!“ „Welches?“ „Das da!“ „Das große?“ „Ja! 24 Wohneinheiten, ins-
gesamt 1.735 Quadratmeter Wohnfläche! Es zahlt sich selbst ab, in 20 Jah-
ren gehört es mir!“ „Ihr Schwaben macht einfach immer alles richtig!“
Weshalb erzähle ich Ihnen diese Geschichte? Weil sie uns gut be-
schreibt. Wir brauchen das, was wir haben, nur für den Notfall. Während
jeder Kölner, Münchner und Hamburger an einem heißen Tag auf seiner
Terrasse sitzt, einen Weißwein schlürft und das Leben genießt, machen
wir Überstunden, um das Geld für die Zweit-Terrasse zu verdienen.
Ich habe das für mich weiter ausgebaut, nachdem ein Freund in
großen Geldschwierigkeiten steckte. Ich fragte ihn: „Was würdest
du tun, wenn du in der Garage einen Tresor hättest, in dem Gold
im Wert von einer Million Euro liegt?“ Er antwortete spontan: „Ich
würde es für Notzeiten aufheben.“
„Jetzt bist du doch in Not, würdest du das Gold versetzen?“ Er
antwortete spontan: „I wo, das schaffe ich jetzt auch ohne!“ Seither
rate ich all meinen Freunden, sich vorzustellen, dass ihnen das be-
schriebene Mehrfamilienhaus am Stuttgarter Bahnhof gehört und
dass sie einen Tresor mit einer Million in Gold in der Garage haben.
Wir brauchen zum Genießen kein Geld! Stuttgart im Sommer
ist die schönste Metropole, die es geben kann. Wir fahren einfach
auf die Anhöhen hoch, zum Teehaus, auf den „Monte Scher-
belino“, das bewegendste und
zugleich schönste Mahnmal
für Frieden und Demokratie
Deutschlands, oder auf die
Karlshöhe, trinken ein küh-
les mitgebrachtes Bierchen
und schauen auf die illu-
minierte Stadt hinunter.
Und für Notfälle ist das
Gold im Tresor. Die einen
haben es, die anderen glau-
ben, es zu haben – der
Effekt ist derselbe, wir
öffnen den Tresor sowieso
nicht.
Noch was: Mein
Opa hat immer zu mir
gesagt: „Wenn du eine Schwäche
hast, sprich sie gleich an, sie merken es
sowieso!“
Liebe Leserinnen und Leser: Ja, der VfB
Stuttgart ist in die zweite Liga abgestiegen,
das ist für einen Fan wie mich sehr schmerzlich und für eine
Metropole wie Stuttgart ausgesprochen peinlich. Und, es stimmt,
wir haben in unserer Stadt im Kessel ein Feinstaubproblem.
Ich würde vorschlagen, dass Sie sich jetzt hämisch feixend und
grinsend ein schönes Getränk holen. Wenn diese Glosse jetzt dazu
führt, dass Sie uns nicht besuchen oder gar zu uns ziehen, dann ist
das zwar bedauerlich, aber dann nehmen Sie uns nicht den Parkplatz
vor dem Haus weg. So, jetzt muss ich weiterarbeiten, die Zweit-
Terrasse ist noch nicht fertig.
Christoph Sonntag ist Autor von zwölf Büchern. Der Satiriker und Kabarettist
lebt in Stuttgart-Bad Cannstatt. Der TV-Kabarett-Star hat beim SWR eine eigene
Sendung („Das jüngste Ger(i)ücht“), und bei SWR3 hört man ihn mit seiner
Glosse „Bloß kein Trend verpennt!“. Seine „Stiphtung Christoph Sonntag“
engagiert sich für soziale und öko logische Projekte (www.sonntag.tv)
Kabarettist Christoph Sonntag erklärt nachdrücklich, warum der Schwabe so
erfolgreich und zufrieden ist – auch ohne Gold und erste Liga ...
FOTO: Markus Palmer; ILLUSTRATION: Tobias Rieger