Der Standard - 24.08.2019

(lily) #1

Samstag, 24. August2019 AlbumA3


18.00 UhrAls die ersten verbisse-
nen Rennradlerinvoller Montur
und mit hochrotem Kopf die Ab-
fahrt von der Augartenbrücke he-
runtergeschossen kommen und
den Kanal flussaufwärts dahin-
rasen, hinein ins Getümmel und
irgendwie mittendurch, die Ell-
bogen ausgefahrenund ihre Kraft
nur von der Kunstfaserkleidung
gebändigt, habe ich endlich eine
Ahnung davon,wie schnell Rä-
der unterwegs sein können.Die
Wiener Stadtpsychologin Corne-
lia Ehmayer beschreibt so eine
Haltung mit: „Jetzt bin ich da. Ich
will da durch!“


18.06 UhrDie extrem dynami-
sche Art der Rennradler ist hier
natürlich nicht allen recht. Sie
provoziert im Gegenteil Abwehr-
haltungenunddenVersuch,sich
gegendieRaserzubehaupten.So
trägt die verträumte „Freihändig-
fahrererin“ (die nicht selten aus
Berlin kommt oder doch mehre-
re Jahre dort gelebt hat) lieber
Dutt statt Helm und hat irgend-
wann „Tradition“ und „Werte“
fürsichentdeckt,wassieu. a.mit
ihrem Rad ausdrückt. Auf dem
fährt sie demonstrativ entspannt
und in Schlangenlinien über die
ganze Breite des Weges und
zwingt dadurch einen 60-jähri-
gen Rennradler mit mutmaßlich
mehrjähriger Erfahrung im Sola-
rium zur Notbremsung: „Aaargh!
Du Trampel!“ Der Verträumten
ist wurscht, was der Solarbär von ihr hält.


18.08 UhrDie Duttträgerin ist in ihrer trot-
zigen Haltung seelenverwandt dem tief in
seinPhonestarrendenSchlurf,derdenwei-
ßen Kastenwagen hinter sich, der gerade ir-
gendwohin geliefert hat, zwar wahrnimmt
und mittlerweile wahrscheinlich sogar
spürt, weil er ihm schon fast in die Füße
fährt, der aber trotzdem nicht ausweicht,
weil er sich vermutlich denkt: „Ich bin auch
ein ,Kleines Ich bin ich‘. Und ich will dich
jetzt nicht vorbeilassen, nur weil du größer
bist als ich.“ Das ist hier ein bisschen wie
früher an der Wurstbudel: „Darf’s ein bis-
serl mehr von mir sein?“


18.09 UhrEin ganz in Schwarz gekleideter
Raser mit Boxen hinten drauf und lauter
Musik darin reißt den Wandler aus seinem
Schlaf. Diese Stadtindianer auf ihren Rä-
dern mit Militaryhose und Satteltaschen
links und rechts sind ganz eigene Typen,
für die ist das hier kein gemütliches Nach-
hauseradel, da geht es um was. Aber um
was? Fehlt jetzt nur das Messer zwischen
den Zähnen, denn wenn ein Krieg aus-
bricht, dann muss man auch hier vorbe-
reitet sein.


18.13 UhrZwei Girls aus der „Im Winter bin
ich in Indien“-Szene scheinen schon „gut
drauf“,vielleichtsogarangedüdelt,alswäh-
rend des gemütlichen Nebeneinanderher-
fahrens über die ganze Breite des Weges
mehrfach eine Dose Gösser von einer zur
anderen wechselt, ein Schluck, ein Lachen,
ein Schlingerkurs. Es ist Sommer, alle tun,
was sie wollen, und sie schauen nicht auf
die anderen. Die Wiener Stadtpsychologin
Ehmayer sagt: „Es gibt eben schwierige
Menschen in der Stadt ebenso, wie es
schwierige Situationen gibt.“ Sie sagt: „Im
Verkehr geht es in Österreich immer gegen-
einander. Da setzt die Kommunikation im-
mer erst ein, wenn etwas passiert ist oder
fast passiert. Und dann werden die Fehler
immer beim anderen gesucht.“


18.16 UhrDie mit ihrer schwarze Vice-Ta-
sche auf ihrem alten Puch-Rennrad steigt
plötzlich ab, um sich auf einem Selfie zu
verewigen, und es ist ihr völlig wurscht,
dass wegen ihr wieder alle ausweichen
müssen. Das rote KTM-Rad, das grüne
Puch-Rad, der orange Foodauslieferer. Das
Wort Fairness leitet sich aus dem Eng-
lischen ab und meint: „Anständiges Verhal-
ten. Gerechte, ehrliche Haltung anderen
Gegenüber.“


18.17 UhrDie erste Joggerin wackelt an mir
vorbei, sie hat immerhin das Prinzip ver-
standen–einen Fuß vor den anderen. Auf
den zehn Metern, die sie an meiner Nase
vorbeikeucht, schaut sie auch dreimal vor-
schriftsmäßig auf die Uhr, aber sicher nicht
auf die Stoppuhr. Und nein, sie trägt bei der
Hitze keine Handschuhe, sondern Gewich-
te an den Händen, die wie Handschuhe aus-
sehen. Sie joggt mit einer bleiernen Ele-
ganz, die schon beinahe an Gehen erinnert,
und hält damit ihrerseits wieder den flie-
ßenden Verkehr auf, während sie unglück-
lich dreinschaut (wie alle Jogger). Ich habe
jedenfalls noch nie einen glücklich drein-
schauenden Jogger gesehen. Ein Car-Bike-
Fahrerumdie90mussakzeptieren,dassso-
gar ein Jogger ihn überholt, er versucht es
dann noch mal in die andere Richtung, aber
da geht’s auch nicht schneller. Wenn er
zum Muscle Beach hinaufwill, werden sie
ihn dort nicht nehmen.

18.30 UhrEin erster nicht angehängter
Hund taucht auf und stellt ein weiteres un-
kalkulierbares Hindernis dar. Es ist ein
Windhund, schmal wie sein Herrl, das in
cremefarbenem Kurzhosenschick und
blonder Langmähne das Glück außerhalb
seines Zimmers sucht. Es steckt vielleicht
in seinem fetten Joint, dessen strenger Ge-
ruch sich über die halbe Fairnesszone ver-
teilt. Wenn andere sich hier die Lunge aus
demLeibfahren,istesnurfair,wennersich
sein Glück in die Lungen ziehen darf. Er
müsste nur seinen Hund kontrollieren, der
–auch eingeraucht?–seelenruhig ein paar
Mal den Weg quert, während sich ein Di-
cker, der eine Radlerhose vom RC Mödling
trägt und die Ehre der Dicken in Radler-
hosen rettet, wegen ihm fast überschlägt.
WennerausseinerHoserausgewachsenist,
dannisterrichtigrausgewachsen.Erflucht.
Die Stadtpsychologin Ehmayer nennt den
öffentlichen Raum eine „Kampfzone.“

18.32 UhrEine der wenigen Spaziergeherin-
nen, die mit kalkweißen Füßen in ihren gro-
ßen Sandalen gemütlich an mir vorbei-
latscht und die vor fünf Minuten gewiss
noch die Socken anhatte, weil die Ränder
sich gut sichtbar in ihre fleischigen, weißen
Waden gedrückt haben, hätte dem Dicken
wieder in die Pedale helfen können. Sie
bringt einen seltenen Moment von Ruhe ins
hektische Treiben, auf ihrer umgehängten
Tasche steht:
Einfach.
Zufrieden.
Sein.

Pascal schrieb: „Das ganze Unglück der
Menschen rührt allein daher, dass sie nicht
ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermö-
gen.“ Recht hat er.

18.54 UhrAber die resche Pensionistin, die
auf ihrem E-Bike den Po tiefer gelegt hat,
damit sie ihr Gesicht noch besser über das
am Lenker angebrachte Phone beugen
kann, um auf diese Art ihren Liebsten zu
Hause via Facetimen das erschöpfte, erhitz-
te, errötete, verschwitzte Gesicht zu zeigen,
hält nichts von Pascal. Nur Radfahren ge-
nügt auch den Pensionistinnen nicht mehr.

19.03UhrEine E-Scooter-Fahrerin mit wei-
ßen Apple-Dingern im Ohr lässt uns wissen:
„Er ist so ein Oarsch!“ Weil „er“ nämlich am
Donnerstag so betrunken war, dass er am
Freitag und Samstag auch noch ... Gott sei
Dank kann ich nicht mehr hören, was er ge-
tan hat, weil sie genauindiesem Moment
in eine Wand aus Mücken hinein fährt, die
auchihrenFairShareamöffentlichenRaum
beanspruchen und sich ausgerechnetüber
der blauen Markierung „Fairnesszone“ auf-
türmen. Ich merke es an den Verrenkungen
derer,die durch die Wand hindurch müs-
sen; an den Taschen, die sie schwingen, um
die Viecher zu vertreiben, und an denen, die
abbremsen, um sich eine Mücke aus dem
Augezuholen(unddiedabeiausnahmswei-
se kein Selfie machen). Was wiederum die
Nachkommenden zur Verzweiflung treibt:
„Schleichts eich!“

19.06UhrEin junges Liebespärchen, das
einfach verliebt ist, ohne zu telefonieren
oderzuinstagramieren–esist,alssäheman
ein Mammut!

19.07UhrUrstylisch die eine mit weißem
Rad samt orangen Felgen, weißer Jeans und
orangem Top, natürlich telefonierend. Für
sie wurde der Strache-Spruch erfunden:
„Pfoah, die ist schoarf!“

19.09UhrEin seltener Gentleman in Jeans
und weißem Hemd auf seinem Rad gibt
Handzeichen, als er den Weg quert zum
Fahrradständer. „Fair“ kommt aus dem
Englischen und meint „den Regeln des
Zusammenlebens entsprechend“ oder
„Eine Haltung der Anständigkeit“.

19.10 UhrZwei Hot-Pants-Trägerinnen aus
der Provinz stoppen unvermittelt und wis-
sen nicht: „Weida? Oda net weida?“ Helfen
kann wie heute immer ein Blick ins Phone,
der ihnen sagt: „Weida!“

19.11 UhrEntwarnung an alle
Sellners und Straches: Die erste
Kopftuchträgerin taucht erst
nach einer Stunde und elf Minu-
tenauf,undsiestreutkeineReiß-
nägel und spannt kein Seil, an
dem sich alle heimischen Pedal-
treter überschlagen –und sie
endlich die Bevölkerung austau-
schen kann. Sie schaut sich viel-
mehr den Tent-Skulpturengar-
ten der Künstlerin Kathrin Oder
an. Empfehlung!

19.14 UhrEndlich schwitzt einer
so richtig, dass ihm die Sauce
runterläuft. Er trägt wie 50 Pro-
zent der Jogger Orange. Schreck-
lich, wirklich schrecklich.

19.20UhrTätowierungen sehe
ich an allen möglichen Schen-
keln in allen möglichen Farben
und Größen. Die Alten könnten
den Jungen noch erzählen, dass
das im Alter scheiße aussehen
kann.Aberdafürsindsowohldie
einen als auch die anderen zu
schnell unterwegs, und vonei-
nander wissen wollen sie hier
alle nichts.

19.21 UhrAuf der Stiege hinauf
zum Kai wird endlich ge-
schmust, nicht heftig, aber im-
merhin. Ein Pfeifenraucher mit
Panamahut quält sich an ihnen
vorbei und will dem Rennradler
nicht ausweichen, der seine
„Rennmaschine“ in seinen
Rennradlerschuhen herunterträgt–tack,
tack, tack.

19.25 UhrDie Schwangere fährt auf ihrem
Rad neben ihrem Adonis, der den Oberkör-
per frei hat. Nächstes Jahr wird das Kleine,
das dann auf der Welt sein wird, mit dem
Radl mitfahren oder joggen, je nachdem, ob
es nach dem Vater oder der Mutter gerät.

19.36 UhrLustig, dass eine Gruppe Touris-
ten sich in Deutsch probiert und ausgerech-
net das Wort „Geschwindigkeit“ auszuspre-
chen versucht.

19.40UhrEinehatnochdieFolienvomHaa-
refärben im Gesteck, als sie vorbeifährt. Ge-
folgt vom stadtbekannten Soziologen und
Radfahrer Dr. Roland Girtler mit rotem
Halstuch, der ein Routinier des Radelns ist.
Er war weiß Gott schon wo mit seinem
Drahtesel–und nicht zum Zwecke der
Selbstdarstellung. Na gut, wenn man nicht
aufpasst, kriegt man Postkarten von ihm,
wo draufsteht, wo er heuer schon überall
war. „Hallo Roland!“ Zu spät.

19.42 UhrEndlich einer, der seine Dame auf
dem Sozius mithat. Wo sind eigentlich die
Gentlemen geblieben?

19.45 UhrErsteHigh Heelsum19.45 Uhr,
schwarz und schwachesechs Zentimeter
hochmit wirklich beeindruckend roten Fer-
sen vonder Hornhaut. Ein Radler rast weni-
ge Zentimeter an ihr vorbei. Die Stadtsozio-
login Ehmayer sagt: „Wir leben in aufgereg-
ten Zeiten. Wenn man sich die Zahlenan-
schaut, dannfunktioniert das Zusammen-
leben eigentlich ganz gut. Es passiert selten
etwas.“ Oft geht es sich geradenoch aus.

19.53 UhrZwei junge Teenagermädchen ge-
hen verliebt und händchenhaltend den
Kanal flussabwärts. Gehen sie so bis nach
Ungarn weiter, dann werden sie dort Pro-
bleme kriegen mit den Orbanisten. Hier in
Österreich sind sie sicher. Hier dürfen noch
alle leben, wie sie wollen. Das ist nur fair.
Time to go.

Manfred Rebhandl ist Schrift-
steller und Autor, u. a. für den
ΔTANDARD.Zuletzt erschienen
von ihm die „Biermösel“-Krimis in
einem Band (Haymon, 2019).
Foto: Maximilian Lottmann

Eine Menge Menschen am Sonntag


Unser AutorManfredRebhandlsetztesich an einem heißen Sommerabend von18bis 20 Uhr


an die FairnesszoneamWienerDonaukanal. Was er dort beobachtete.


Samstag, 24. August2019 Momentaufnahmen AlbumA3


„Wir leben in aufgeregten Zeiten.Wennman sich die Zahlen anschaut, dann funktioniert
das Zusammenlebeneigentlich ganz gut. Es passiert selten etwas.“
Foto: Christian Fischer
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