Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1

W


enn die Aseler Brücke auf-
taucht, wird es kritisch am
Edersee. Normalerweise
liegt die alte, etwa 60 Me-
ter lange Passage unter
Wasser. Aber was ist in diesen Zeiten schon
normal am nordhessischen Edersee, der
flächenmäßig zweitgrößten Stausperre
Deutschlands? Dort, wo eigentlich eine
kleine Fähre Touristen über die Fluten
schippern sollte, erstreckt sich in diesen
heißen Augusttagen ein unwirtliches
Schotterfeld. Badespaß? Pustekuchen.
Allein ein junger Golden Retriever japst
durch schmale Rinnsale. Im Geröll liegen
Tretboote, mit denen man an besseren
Tagen Ausflüge über den See macht. Der
Eisverkäufer am Ufer hat Langeweile.
Matthias Stappert sitzt auf einer Holz-
bank im Schatten, schaut auf die Brücke,
den japsenden Hund und die trockengefal-
lenen Bötchen mit Schwanenköpfen inmit-
ten der Mondlandschaft. In einem Satz be-
schreibt der Bürgermeister der Gemeinde
Vöhl das Dilemma des Sees und seiner Men-
schen: „Das ist die Folge des Klimawandels
und falschen Wassermanagements.“
Der Edersee, der sich in den vergange-
nen 60 Jahren zu einem vergleichsweise
preiswerten Ferienziel für Familien und
Wassersportfreunde entwickelt hat, trock-
net aus. Jedenfalls im Sommer. Und das
bringt die Bewohner der Seeorte in Kalami-
täten. Für sie ist das Gewässer persönlich
eine Herzenssache und wirtschaftlich eine
Einnahmequelle. Weniger Wasser im Som-
mer bedeutet, dass die Saison kürzer wird
und der Umsatz sinkt. Stammgäste be-
schließen, ihre Ferien besser anderswo zu
verbringen. Denn wer Ende August hier
etwa noch segeln will, könnte schwer ent-
täuscht werden.
Jahre, ach was, ein Jahrzehnt lang glaub-
ten die Menschen am See, sie würden in Sa-
chen Wasser von den politisch Mächtigen
ungerecht behandelt. Schon immer fielen
die Pegel im Sommer, kein Wunder. Des-
halb war die Talsperre einst überhaupt ge-
baut worden.
Am Anfang stand nicht der Wunsch, den
Fremdenverkehr zu fördern. Das Reser-
voir, entstanden noch im Kaiserreich, soll-
te eine angemessene Versorgung der We-
ser und deutscher Kanalstraßen für den
Güterverkehr per Schiff garantieren.

Damals, in der Zeit vor und im Ersten
Weltkrieg, verloren fast 1000 Menschen ih-
re Heimat. Zu tief liegende Dörfer wurden
geflutet, Häuser und Kirchen abgebaut
und oberhalb des neuen Sees wieder aufge-
richtet. In die Erinnerung der alteingeses-
senen Familien hat sich all dies über Gene-
rationen hinweg eingebrannt.
„Die Menschen hier haben einen Preis
für den See gezahlt. Wir haben Orte versin-
ken sehen und uns umorientiert“, sagt
Christine Hoffmann. Die 54 Jahre alte Frau
mit den dunklen Haaren ist am See gebo-
ren, verließ dann, wie viele andere nordhes-
sische Frauen, in jungen Jahren die ver-
meintliche Enge der Heimat auf der Suche
nach der großen, bunten Welt. Da war die
Goldschmiedeausbildung in München, an-
schließend ein Schmuckdesignstudium,
Arbeit in den USA und in Norddeutsch-
land. Dann kehrte sie zurück an den See,
der Natur und des Heimwehs wegen. Im
Elternhaus auf den Höhen über der Sperre
hat sie eine kleine Werkstatt eingerichtet.
Im Moment ist sie, wenn man so will, ei-
ne Profiteurin des Wassermangels. Wider

Willen, wie sie sagt. Als der See mal wieder
leer war, in den Herbstmonaten 2003, fand
sie versteinerte historische Schlackenstü-
cke, aus der Erzverhüttung im Dorf Berich,
das seinerzeit im Wasser verschwand. Sie
lässt die Bröcklein schleifen, fasst sie ein,
für Ohrringe, Ketten oder Anhänger. „Eder-
seelchen“ nennt sie die grau-grün-blau
schimmernden Unikate. Hoffmann sagt,
sie habe aus der Not am See eine Tugend
gemacht. Wie Bürgermeister Stappert be-
obachtet sie die Entwicklungen an der
Sperre mit Argwohn. „Wir haben Glück,
wenn der See in der Saison noch sechs
Wochen richtig voll ist“.

Ortsfremde könnten auf die Idee kom-
men, die Leute in Vöhl, Edertal und Wald-
eck hätten ein Luxusproblem, weil gut situ-
ierte Segler nicht mehr genügend Wasser
unter dem Kiel haben. Unfug. Die Sperre
ist kein Ballermann, kein Lido, auch nicht
der Starnberger See. Er sei Heimat und
Urlaubsziel von Menschen, die keine son-
derlich großen Sprünge machen könnten,
sagt Hoffmann. Kein Halligalli, kein Getö-
se, keine Happenings. Hier lebt man von
der Natur. Wer Geld verdienen oder ausge-
ben wolle, müsse sich im Leben anstren-
gen, sagt die Designerin. Der Edersee ist,
wenn man so will, ein Ort des kleinen
Glücks.
Es gibt etliche Pensionen und Gästehäu-
ser, mit Ausnahme des Hotels in der alten
Burg Waldeck sucht man Luxusressorts
hier vergeblich. Stattdessen gibt es Cam-
pingplätze auf Wiesen, die auch Heimstatt
für Dauercamper sind. Und so mancher
hat sich hier den Traum von der eigenen
kleinen Ferienhütte erfüllt. Pferdeäpfel
auf schmalen Straßen und bunte Wiesen
verbreiten den Duft von Sommerfrische.
Rundherum breiten sich grüne Wälder
aus. Wer jedoch genauer hinschaut, kann
auch im Forst erste Anzeichen der Trocken-
heit erkennen. Hier und da ragen dürre
Äste und Baumspitzen heraus.
Der See aber ist der traditionelle Mittel-
punkt der Region, die nie nennenswerte
Industrie hatte, ländlich geprägt war und
ist. Kleingewerbe gibt es, aber nicht sehr
viele größere Betriebe. Je mehr Touristen
kamen, umso größer wurde in den letzten
Jahren der Verdruss über die altherge-
brachten Ablassregeln.
Jede Welle, die in die Weser abfloss, fehl-
te am See. Vergangenes Jahr wurde es dra-
matisch. Nicht nur die alte Aseler Brücke
tauchte auf, sondern auch andere Relikte
der einst überfluteten Dörfer, darunter die
Gräber von Berich, die vor der Evakuie-
rung sicherheitshalber mit Beton übergos-
sen worden waren. Ein gruseliger Anblick,
in mehrfacher Sicht. „Edersee-Atlantis“

nennen die lokalen Touristikmenschen
werbewirksam den Blick auf die histori-
schen Hinterlassenschaften. Auch sie ma-
chen, wenn man so will, aus der Not eine
Tugend.
Und jedes Jahr ging der Wasserkampf in
Nordhessen in eine neue Runde – eine Aus-
einandersetzung, an der viele Akteure be-
teiligt sind: Die Leute vom See, die sich ihr
Stückchen Eden in Jahrzehnten geschaf-
fen haben, die hessische Landesregierung
in Wiesbaden, die sich für die Region stark
macht, aber in Sachen Wasserverteilung
nicht das Sagen hat. Die Hoheit liegt beim
Bundesverkehrsministerium in Berlin, das
über die Talsperre und die Wasserstraße
Weser herrscht. Und natürlich das Land
Niedersachsen mit seinen Wesergemein-
den, die ihr ganz eigenes verständliches
Interesse an einem funktionierenden
Schiffsverkehr auf der Weser haben, für
den Tourismus und die Binnenschifffahrt.
In diesem Frühjahr konnten die Anrai-
nergemeinden einen Erfolg verbuchen.
Die Wassermenge, die winters wie som-
mers zugunsten der Weser abgelassen
wird, wurde reduziert. Hilft es wirklich?
Naja. Die Aseler Brücke ist doch schon wie-
der aufgetaucht. Langsam wird es den Leu-
ten am See klar, dass ihre Misere nicht nur
der Wasserverteilung, sondern auch dem
Klimawandel geschuldet ist. Wo weniger
Wasser ankommt, gibt es auch weniger zu
verteilen. Erstaunlich ist, dass diese uner-
freuliche Erkenntnis nicht etwa Trübsinn
bei den Machern in der Region auslöst,

sondern neue Ideen und Schwung bringt.
Bürgermeister Stappert ist einer, der früh
begriff, dass man neben der Talsperre auf
Alternativen setzen muss. Wie kaum ein
anderer propagiert er über die kommuna-
len Grenzen hinweg die Schönheit des Nati-
onalparks Kellerwald-Edersee, einem fast
60 Kilometer großen Schutzgebiet mit Bu-
chen-Urwald. Dazu gehört ein anspruchs-
volles Wandergelände, dessen Höhen so
schöne Namen tragen wie Himmelreich
und Traddelkopf. „Willkommen in der
Nationalparkgemeinde Vöhl“, begrüßt
Stappert inzwischen regelmäßig Besu-
cher. Er hat durchgesetzt, dass Vöhl, Eder-
tal und Frankenau höchst offiziell diesen
Zusatztitel tragen dürfen.
So etwas nennt man Marketing. Zwar
gibt es in Deutschland mehr als ein Dut-

zend Nationalparks. Doch wenn man den
Begriff hört, sieht man im Geiste die Geysi-
re des Yellowstone-Parks in den USA vor
sich, eine der ältesten Schutzzonen der
Welt. Stappert schaut immer noch auf das
traurige Schotterfeld an der Aseler Brücke.
Wenn es so weiter gehe, habe seine Ge-
meinde Vöhl als Erste kein ausreichendes
Wasser mehr, meint er. Klar, der See müs-
se gestützt werden, er sei schließlich im-
mer noch die größte Attraktion. Aber ande-
re Angebote seien nötig. „Wir müssen uns
neu aufstellen. Das können Sie, wenn Sie
mögen, auch Klimaanpassung nennen.“
Einige neue Projekte sind schon auf dem
Weg. In Edertal, an der Sperrmauer, soll
bald eine weitere Attraktion entstehen. Ein
großes Besucherzentrum ist in Planung,
dort, wo jetzt ein paar öffentliche Toiletten
stehen. Die Landesregierung in Wiesba-
den übernimmt den größten Teil der Kos-
ten von mindestens zwei Millionen Euro.
Für das Land ist das eine Infrastruktur-
maßnahme. Wenn es regnet oder wenn die
Dürre den See austrocknet, bietet man Tou-
risten ein Ausflugsziel, verlängert hoffent-
lich die Saison und sorgt dafür, dass die
Geschäfte im strukturschwachen Nordhes-
sen einigermaßen laufen.
Für etliche Einwohner ist dieses Zen-
trum von höchstpersönlicher Bedeutung,
ein Mahnmal, sozusagen, für die wechsel-
hafte Geschichte der Sperre, die vielen
Familien einen hohen Preis abverlangt hat.
Erst die Umsiedelungen und Überflutun-
gen der Dörfer. Dann im Zweiten Weltkrieg
der Angriff der britischen Luftwaffe, der in
der Nacht zum 17. Mai ein 60 Meter breites
Loch in die Sperre riss. Wasserfluten ergos-
sen sich in die Täler, mindestens 29 Men-
schen kamen in den Fluten um. „Tränen,
Bomben, Paradies“, lautet der bezeichnen-
de Titel eines Fotobuches von Uli Klein, der
am See aufwuchs. Und was ist mit der Dür-
re? Die sollte vielleicht auch Thema der
Ausstellung werden.
Denn wer weiß schon, wie lang das Eder-
see-Glück noch dauert? Thomas Hennig,
Besitzer einer Segelschule in Rehbach,
sagt, mit dem Wassermangel stehe viel auf
dem Spiel: „Es ist ein regionales Wirt-
schaftsproblem.“ Hotels und Gastronomie
tun sich schwerer, Saisonkräfte zu finden.
Wer will nach Nordhessen kommen, wenn
anderswo die Saison viel länger dauert?
Hennigs Skatfreund Kalli Draude, Jahr-
gang 1937, stimmt zu. Er ist bis heute passi-
onierter Segler und betreibt einen Kran,
mit dem Boote ins Wasser gesetzt oder her-
ausgeholt werden. Als er an den See kam,
in den Fünfzigerjahren, gab es vielleicht
vier Dutzend Schiffchen am See. In den gül-
denen Jahren nach der Jahrtausendwende
waren es 2000. Jetzt sinkt die Nachfrage
nach Liegeplätzen. Düstere Aussichten al-
so? Segellehrer Hennig wackelt mit dem
Kopf. Vieles hätten die Anrainer in den ver-
gangenen Jahren durch zähen und mühsa-
men Einsatz für den Verbleib des Wassers
im Speicher erreicht. „Doch wenn sich das

Klima ändert, müssen wir uns mehr einfal-
len lassen“, rät er. Den Nationalpark als
zweites Standbein ausbauen, neue Besu-
chergruppen anlocken, Best Agers etwa. So
nennen Werbeexperten Leute in gesetzte-
rem Alter, die keine finanzielle Not leiden,
unternehmungslustig sind und besten-
falls auch reisefreudig. Schon heute sieht
man am See betagte Radfahrer, die er-
staunlich flink die Serpentinen rund um
die Sperre erklimmen. Das E-Bike macht
es möglich. Auch müsse man die ganze
Hotellerie auf Komfortstandard bringen,
sagen die Skatfreunde von Rehbach. Und
darauf hoffen, dass sich die Deutschen in
Zeiten des Klimawandels darauf besinnen,
dass man auch im eigenen Land sehr schö-
ne Ferien verbringen kann.
Die Seepioniere im Edertal sind ziem-
lich fest entschlossen, dem Wasserblues zu
trotzen. Richtig so, findet Professor Diet-
rich Borchardt. Der Mann ist ein renom-
mierter deutscher Wasserexperte und
Leiter der Abteilung Aquatische Ökosys-
temanalyse am Helmholtz-Zentrum für
Umweltforschung in Magdeburg. In frühe-
ren Jahren hat er sich intensiv mit Talsper-
ren und der Lage am Edersee beschäftigt.
Borchardt macht den Anrainern Mut: „Der
See könnte inmitten des Klimawandels ein
Musterbeispiel für Nutzungsänderung
und Anpassung werden, jedenfalls dann,
wenn sich die Akteure in der Region einig
sind, gute Ideen haben und ihrerseits be-
reit sind, auch für sich in Dürrezeiten Ver-
zicht zu üben.“

Aus Sicht des Professors wird die Rolle
von Talsperren in diesen Wendezeiten
noch immer unterschätzt. Zukunft und
Nutzung der Sperren müssten dringend
neu geordnet werden. Warum, bitte schön,
müsse die aus wirtschaftlicher Sicht nicht
mehr herausragend bedeutsame Schiff-
fahrt auf der Oberweser noch immer Priori-
tät haben? „Bislang müssen sich die Was-
sermengen im Stausee den Schiffsgrößen
anpassen und nicht umgekehrt. Es gibt im-
mer noch zu viele Denkverbote bei diesem
Thema, die man dringend überwinden
muss“, verlangt Borchardt.
Tatsächlich haben viele Last- und Tou-
ristenschiffe auf der Oberweser noch im-
mer einen großen Tiefgang, sind also auf
sinkende Pegel nicht eingestellt. Doch die
Weser hat seit Jahrzehnten einen mächti-
gen Fürsprecher, den Bundesverkehrsmi-
nister, inzwischen Andreas Scheuer von
der CSU. Was kann ein nordhessischer
Bürgermeister schon gegen einen solch
einflussreichen Ressortchef ausrichten?
Wasserexperte Borchardt sagt, die Verhält-
nisse könnten sich ändern. Ein vom Bun-
desumweltministerium initiierter nationa-
ler Wasserdialog komme langsam in Gang,
der dürfte Gemeinden vor Ort helfen.
Vor Ort am Edersee schwankt man noch
zwischen Sorge und Hoffnung. Schmuck-
designerin Hoffmann schließt bei der Fra-
ge, wie es denn an der Sperre in 50 Jahren
aussieht, ihre Augen und überlegt. Nein,
sie wolle nicht schwarzmalen. „Aber wenn
es kein radikales Umdenken gibt, ist das
Wasser weg und es gibt nur noch Rinnsa-
le“, sagt sie. Segellehrer Hennig ist optimis-
tischer. Vielleicht sei die Sperre dann ein
Trinkwasserreservoir, an dem man Urlaub
und Wassersport machen könne. Und Kalli
Draude, der Skatfreund, setzt auf Ver-
nunft, Einsicht und Erschrecken der Men-
schen: „Ich habe die Hoffnung, dass der
Klimawandel uns hier tatsächlich hilft.“

32 WIRTSCHAFT REPORT Samstag/Sonntag, 24./25.August 2019, Nr. 195 DEFGH


Ein Gewässer mit vielen Aufgaben: Der Ederstausee liefert Strom, versorgt den
Fluss Weser mit Wasser und ist ein Refugium für Urlauber. FOTO: IMAGO

Wenn Wanderer trockenen Fußes über die alte Aseler Brücke marschieren, ist das ein Zeichen für Wassermangel. Die Passage und einige Dörfer gingen vor gut hundert Jahren in den Fluten der Edersee-Talsperre unter. FOTO: UWE KRAFT/IMAGO

10 km
SZ-Karte/Maps4News

Kassel

HESSEN

Frankenberg

Nationalpark
Kellerwald-Edersee
Eder

Eder

Vöhl Fulda

Korbach

Edertal

Edersee

We
se
r

In der Wasserfalle


Der nordhessische Edersee ist die zweitgrößte Talsperre Deutschlands.


Seit einigen Jahren sinkt der Pegel im Sommer bedenklich, schuld ist auch der Klimawandel.


Aufgeben kommt für die Anwohner aber nicht infrage, für sie steht zu viel auf dem Spiel


von susanne höll


„Die Menschen
hier habeneinen Preis
für den See gezahlt.“

Die Region lebt von Touristen.
Was, wenn die nun
plötzlich wegbleiben?
Die Talsperre stellt sicher,
dass auf der Weser
Schiffe fahren können

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