Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1

Z


u Beginn des neuen Romans von
Ian McEwan kauft sich der Prot-
agonist einen humanoiden Robo-
ter und bekommt ihn nach Hause
geliefert. Er ist neugierig, denn
das Ding war richtig teuer. Aber zu seiner
Enttäuschung muss es erst noch aufgela-
den werden. So sitzt der neue, nackte Robo-
termann also zunächst am Küchentisch,
hat ein Kabel im Bauchnabel und lädt sei-
nen Akku, ist zwarda, aber nichtan.Und
der Protagonist hat unerwartet noch ein
paar ruhige Stunden, um sein Leben bis
hin zu diesem Kauf zu überdenken. Die
Ladephase des Akkus wird zur letzten
Schonfrist, bevor schließlich die Augenli-
der des Roboters zittern und die Probleme
beginnen.
Das ist eine schöne Idee: Die kurze Zeit,
in der unsere Geräte aufladen als die letzte
Ruhespanne des Alltags. Und es ist gut,
dass die zeitgenössische Literatur endlich
den Akku beachtet. Die kleine Kraftquelle
ist schließlich das zentrale Element all je-
ner Dinge, die uns heute so sinnstiftend
und modern vorkommen, egal, ob Elektro-
auto, Smartphone, Vibrator, Netbook,
Kopfhörer oder iPad. Was immer davon als
symbolisches Produkt zum Beginn des
Jahrtausends in die Geschichte eingehen
wird, es hat keinen Stecker, sondern eben
einen Akkumulator. Die beste Fabrik der
Gegenwart, die Gigafactory 1, wurde von
Elon Musk für nichts anderes konstruiert,
als moderne Akkus zu bauen. Hunderttau-
send Energieriegel für die ganze Welt. For-
scherteams an den Universitäten erfinden
jedes Jahr neue Batteriekombinationen,
die den Strom in Zukunft noch leichter la-
den, länger halten oder ermüdungsfreier
speichern können.
Keine Frage – die kontinuierliche Ver-
besserung der Akkutechnologie hat unser
Leben in den vergangenen zwanzig Jahren
maßgeblich verändert. Erst mit der Unab-
hängigkeit von der Steckdose ist etwa die-
se ganze herrliche Arbeitsfreiheit möglich
geworden, aber eben auch diese ganze ver-
fluchte Überallarbeit. Akkus bringen
künstliches Licht an Orte, die dunkel wa-
ren. Sie machen Autos leise, Zugfahrten er-
träglich und einen alten Wunsch der Pop-
kultur wahr: Es müsste immer Musik da
sein. Akkus haben das fast geschafft.

Die Straßen, aber auch die Werkbänke,
Kinderzimmer und Haushaltsschränke fül-
len sich mit den neuen Geräten: Leise, ka-
bellos und vor allem irgendwie unkompli-
ziert und handlich, das sind ihre Verspre-
chen. Wer zum ersten Mal mit einer Akku-
Heckenschere den Vorgarten frisiert hat,
dürfte zustimmen: Es ist eine angenehme,
neue Ungebundenheit. Nicht zu vergessen
die gefühlte Sauberkeit und die anfänglich
so alerte, stille Power dieser Dinger!
Man ist während der Benutzung also bis-
weilen geneigt zu vergessen, dass die Akku-
Freiheit immer nur temporär ist. Früher
oder später müssen die Sachen ja alle wie-
der angeleint werden, um blinkend Kraft
zu sammeln. Und längst stapelt sich in
Schrank und Schublade die Infrastruktur
für diesen unvermeidlichen Akt, in Form
Dutzender Kabel und Basisstationen. Das
tägliche Getüdel damit fällt umso lästiger,
je unentbehrlicher die Sachen geworden
sind. Smartphone, Speaker, Leuchte, Com-
puter, Staubsauger, Rasierer, Elektrorol-
ler, Tastatur, Fahrradlicht, Zahnbürste –
an schlechten Tagen quittieren sie alle und
zur Unzeit ihren Dienst und dann ist wo-
möglich sogar noch die E-Zigarette leer.
So smart die kleinen Maschinen sind,
ihr allgegenwärtiger Ausfall, das ständige
Aushauchen ihrer Lebensgeister, entwi-
ckelt sich zu einer zarten bis mittleren Be-
lastung im Alltag, zumal wenn der Geräte-
park einer ganzen Familie gemeint ist. Die
Ladebalken aller Dinge immer im Kopf zu
haben und Engpässe vorauszuahnen, be-
vor man das Haus verlässt, das erfordert
Disziplin, die ein bisschen im Gegensatz
zum ewigen Flow-Versprechen der neuen
Scooter und Soundboxen steht. Wer nicht
rechtzeitig ans Laden und die dafür benö-
tigte Zeit denkt oder das Kabel vergisst,

der hat eben plötzlich kein Gerät mehr, son-
dern nur ein nutzloses Display oder eine ge-
lähmte Heckenschere.
Nicht von ungefähr gingen vergangenes
Halloween gemalte Schilder viral, auf de-
nen ein weltweit bekanntes Horrorszena-
rio zu sehen war: Ein 1-Prozent-Ladebal-
ken. Seltsam, aber wahr: Dieses Bild löst
im Betrachter mehr Unbehagen aus als ir-
gendeine Gruselmaske aus Plastik. Der bal-
dige Blackout macht Sorge. Mehr noch:
Das ewig drohende Nichtfunktionieren
macht Angst. Es schwebt über unseren Ge-
räten, aber auch über uns. Denn das Narra-
tiv des Akkus, der allgegenwärtige Rhyth-
mus des Auf- und Entladens, ist uns längst
in Fleisch und Blut übergegangen.
Dass sie Kraft sammeln und ihre Syste-
me sozusagen regenerieren müssen, lässt
Akkuprodukte ja irgendwie menschlich
wirken. Oder zumindest auf vertraute Art

unperfekt. Wer je einen Staubsaugerrobo-
ter dabei beobachtet hat, wie er mit rot blin-
kender Ladeanzeige müde und schon ganz
tapsig den Weg zurück zur Ladestation
sucht, fühlt sich der kleinen Dreckschleu-
der jedenfalls erstaunlich nahe. Ganz ähn-
lich irrt man allabendlich ja auch in seine
Dockingstation unter die Daunendecke zu-
rück. Vielleicht liegt es an diesem vagen Er-
kennen, dass die moderne Gesellschaft
und vor allem die Millennials das Akku-
Prinzip eigentlich als Lebensprinzip adap-
tiert haben.
Die Fragen, die wir als Käufer heute an
einen Akku haben, sind einfach: Wie lange
hält er? Wie stark ist er? Und wie schnell ist
er wieder voll? Es ist beinahe komisch,
dass die drei Fragen aber auch letztlich wie-
der an uns gestellt werden, als Teilnehmer
der hochverdichteten Arbeitswelt. Wer
kann unter Volllast am längsten präzise ar-

beiten? Wer ist nach nur vier Stunden
Schlaf wieder als Erster im Büro? Wer
schafft auch dann noch was weg, wenn er
eigentlich längst im Rotbereich ist? Die gro-
ßen Unternehmensberater, immer noch ei-
nes der prägendsten Berufsbilder unserer
Zeit, aber auch Start-ups, Ärzte, Banker
und E-Sport-Teams fördern und plakatie-

ren Mitarbeiter mit solchen Superakku-Ei-
genschaften. Und die Ansprüche, die viele
Freiberufler an sich stellen oder gestellt be-
kommen, unterscheiden sich davon auch
nicht groß: Immer arbeiten, bis das eigene
Display schwarz wird. Und dann schnell
wieder aufladen. Der Duracell-Hase von

früher konnte länger und länger und län-
ger Krach machen als der Hase mit den nor-
malen Batterien. Das würde heute nicht
mehr reichen. Heute müsste die Werbung
lauten: Der Superhase kann länger. Und
stärker draufhauen. Und schneller wieder
von vorne die sinnlose Strecke abfahren.
Das ganze Begriffsfeld der menschli-
chen Erschöpfung wurde schon an die Bat-
terie-Kultur angepasst. Unser Akku ist
leer, wir sind ausgepowert, wollen abschal-
ten, runterfahren, müssen neue Energie
tanken, rechargen, andocken etc. Danach
können wir wieder performen. Als hätten
wir auch irgendwo einen fest verbauten Li-
Ionen-Akku, der nur ein bisschen ans Netz
muss, um wieder einsatzbereit zu sein.
Kleines Problem: Da ist kein USB-Charger
im Bauchnabel und es gibt keine Steckdo-
se, aus der Lebensenergie für uns kommt.
Die Übersprungshandlung nach dieser Er-

kenntnis? Das schon generationsprägende
Weekend im stadtnahen Wellnesshotel.
Dessen immer gleiches Versprechen von
Massage und Völlerei gönnen sich gerade
Berufsanfänger gerne fünfmal im Jahr, ver-
mutlich weil es genau das Ersehnte ver-
heißt: eine zusätzliche Akkufüllung. Da-
nach geht’s wieder. Zumindest ein Stück.
Als der gefeierte, junge Videokünstler Jo-
nas Lindstroem vergangenes Jahr in Berlin
einen fünfminütigen Clip über seine Gene-
ration drehte, gab er als Parole für den
Kurzfilm aus: „Akku drei Prozent, Auf-
merksamkeitsspanne null Sekunden.“ Das
umschreibt gut, wie Bewusstsein und Bat-
terie bei den urbanen Millennials mittler-
weile verknüpft sind. Botschaft: Solange
der Akku läuft, laufe ich.
Aber wo die eigene Lebenskraft zum
imaginierten Ladebalken wird, sollte doch
bitte auch noch eine weitere Parallele zum
Akku gezogen werden: Wenn die Zellen in
die Jahre kommen, ihre Ladezyklen kürzer
werden und der Energieverlust immer
sprunghafter, ist bekanntlich das ganze Ge-
rät angezählt. Ein Austausch des Akkus ist
meist nicht vorgesehen. Am Ende, sagt
man gemeinhin, ist die Batterie platt, abge-
raucht. Oder eben man selbst ausgeburnt.

Es gab dieses Jahr schon eine ganze Rei-
he von Essays, vor allem in den USA er-
schienen, in denen Journalisten und Wis-
senschaftler über das Phänomen einer er-
schöpften Jugend nachdachten, denn die
Zahlen sind da ziemlich eindeutig: Bei je-
dem dritten amerikanischen Studenten
wurde in den Jahren 2016 und 2017 eine
psychische Krankheit diagnostiziert. Un-
ter deutschen AOK-Versicherten hat sich
die Zahl der Krankschreibungen mit einer
Z73-Diagnose (Diese Kennziffer vereint al-
le „Probleme mit Bezug auf Schwierigkei-
ten bei der Lebensbewältigung“ und meint
mehrheitlich Burn-out-Symptome) von
2008 auf 2017 verdreifacht, die meisten da-
von stehen in der ersten Lebenshälfte.
Aber wie kann es sein, dass eine gut aus-
gebildete und ziemlich sorglos aufgewach-
sene Generation schon mit Anfang dreißig
einen existenzbedrohenden Energiever-
lust meldet? Natürlich, die perfide Digitali-
sierung! Aber vielleicht auch ein bisschen
das schon lebenslange Abmühen in einer
akkuartigen Studien- und Arbeitswelt. Ei-
ner Leistungskultur, die nicht mehr auf
langfristige und konstante Kraftvertei-
lung ausgelegt ist. Sondern auf das Prinzip
von kurzfristigem Energieziehen, punktu-
ellem Ausschöpfen der Ressourcen, ge-
folgt von ständigem Rebooten. Man soll
möglichst aus dem Stand Höchstgeschwin-
digkeit abliefern, aber auch an der nächs-
ten Ecke wieder abstellbar sein, wie ein
Elektroroller. Wer mit Anfang dreißig ein
Studium, zwei Praktika, drei Hospitanzen,
vier befristete Arbeitsverträge, fünf Bezie-
hungen und sechs Wohnorte hinter sich
hat, dessen seelisch-körperliche Elastizi-
tät ist aber natürlich beeinträchtigt. Der
bräuchte schon jetzt mal einen neuen Ak-
ku, um frisch in die eigentlich stressigen
Jahrzehnte zu starten. Kabelloses Leben
bedeutet dann vielleicht auch: nirgendwo
verwurzelt und ziemlich haltlos.
Der Begriff „Selfcare“ ist nicht von unge-
fähr ein wichtiger Hashtag der Millennials
geworden. Es umschreibt nichts anderes
als das dringend ersehnte Aufladen und
die Suche nach irgendeiner stabilen Ener-
gieversorgung, einer zuverlässigen menta-
len und körperlichen Ladestation.
Im Roman von Ian McEwan muss der Ro-
botermann jede Nacht sechs Stunden auf-
geladen werden. Die Maschine setzt sich
dazu selbständig an den Küchentisch. Am
nächsten Tag ist er nicht nur frisch gela-
den, der Algorithmus hat auch die neuen
Erfahrungen verarbeitet, der Roboter wird
also jeden Tag ein bisschen smarter. Das
ist die große Gemeinheit: Die Akkus und
Geräte um uns herum werden immer leis-
tungsfähiger. Wer dieses System der stän-
digen Optimierung verinnerlicht hat,
muss an der neuen Welt irgendwann ver-
zweifeln: Warum zur Hölle funktioniert al-
les immer besser, nur ich nicht?

Wie der Mossad 1979 Tausende
äthiopischeJuden über das Rote
Meer nach Israel brachte  Seite 55

Verborgen
FOTO: GAD SHIMRON

Der Sohn liebt Computerspiele, der
Vatersorgt sich. Gemeinsam fahren
sie zur Gamescom  Seite 51 Rolf Seelmann-Eggebert berichtet seit Jahrzehnten
über dieKönigshäuser Europas. Da ist Diskretion
gefragt. Das große Interview  Seite 56

DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 49


GESELLSCHAFT


Immer kurz


vor leer


Hast du noch Power, oder musst du schon


wieder aufladen? Über die seltsamen Parallelen von


Akkutechnik und Burn-out-Gesellschaft


von max scharnigg


Dass sie Kraft sammeln
müssen, lässtAkkugeräte
irgendwie menschlich wirken

Kleines Problem: Es gibt
keine Steckdose, aus der
Lebensenergie für uns kommt

Vielleicht bedeutet kabelloses
Leben auch, ziemlich haltlos und
nirgendwo verwurzelt zu sein

Verlockend
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Verlässlich


Model und Unternehmerin: Sara
Nuruüber ihre Jugend in Erding und
ihr Engagement in Afrika  Seite 50

Kosmopolitisch


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