Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
An den Schnittstellen zwischen politischen
Realitäten und Agenten-Fantastereien
fühlt sich der israelische Drehbuchautor,
Regisseur und Produzent Gideon Raff
recht wohl – und ist dabei auch durchaus
erfolgreich. „Hatufim“ hieß seine erste Se-
rie, die Hollywood gleich adaptierte und
von Raff produzieren ließ. Unter dem Titel
„Homeland“ wurde sie zu einem großen Se-
rienerfolg.
Bei dem Film „Red Sea Diving Resort“,
der seit Anfang des Monats beim Strea-
minganbieter Netflix zu sehen ist, mag ent-
weder bereits die Wirklichkeit zu fantas-
tisch gewesen sein – oder Raff hat für die-
sen Stoff mit einem Zweistünder anstelle
eines Mehrteilers das falsche Format ge-

wählt. Während „Homeland“ mit komple-
xen Figuren glänzte, bleiben die Charakte-
re hier oberflächlich, was nicht den Schau-
spielern wie Chris Evans („Avengers“) oder
Ben Kingsley („Gandhi“) anzulasten ist, son-
dern dem Drehbuch: Die Helden des Films
sind die weißen Männer (und die eine wei-
ße Frau), die zur Rettung der äthiopischen
Juden ausziehen. Die hingegen bleiben im
Film trotz ihres Schicksals eher Kompar-
sen, selbst den Landschaften von Südafri-
ka und Namibia, wo der Film gedreht wur-
de, wird eine größere Rolle eingeräumt.
Dass am Ende der US-Produktion natürlich
US-Agenten die Handlung wider allen his-
torischen Fakten zu einem Happy-End füh-
ren, ist dann auch schon egal. MOB

D


ie Tourismusbroschüre, in der
die Wahrheit über eine Desti-
nation verraten wird, muss
noch produziert werden.
Meist ist der Himmel etwas
blauer, der Strand etwas weißer, die Bau-
stelle neben dem Hotel etwas unsichtba-
rer. Das Faltblatt aber, das Anfang der Acht-
zigerjahre in Reisebüros auslag, log so
schamlos wie nur wenige andere: „Arous.
Eine wundervolle Welt für sich, in der so
viel zu sehen und so viel zu tun ist.“ Der Pro-
spekt zeigte Bilder von bunten Fischen vor
bunten Korallen, freundliche Einheimi-
sche, Windsurfer und braungebrannte Ur-
lauber, deren blonde Haare in der Sonne
glänzten.
Falsch war an dem Blättchen nicht das
Lob auf die Schönheit der sudanesischen
Rotmeerküste, an die sich Arous schmieg-
te, der Fisch- und Korallenreichtum nahe
der Hafenstadt Port Sudan zog schon die
Unterwasserpioniere Hans Hass und
Jacques Cousteau an. Und auch an der idyl-
lischen Lage war nichts beschönigt. Rund
um die 15 Bungalows mit Meerblick war
nichts als Wüste, Sand und Einsamkeit, die
Ruhe der Gäste wurde höchstens durch Ru-
fe von Fischadlern und Gazellen gestört.
Die Täuschung von Arous war viel
grundsätzlicher: Die Feriensiedlung war ei-
gentlich keine Feriensiedlung, sondern ein
Stützpunkt des israelischen Geheim-
diensts. Auch wenn dorthin entsandte
Agenten wie der heute 69 Jahre alte Gad
Shimron immer noch ins Schwärmen kom-
men, wenn sie von dem freien Leben mit-
ten im Nirgendwo erzählen, sollte Arous
nicht der Erholung der Geheimdienstmit-
arbeiter dienen. Sondern ihnen ermögli-
chen, im Feindesland zu agieren, um afri-
kanische Juden zu retten – getarnt als
Tauchlehrer oder Hotelmanager.
Die Grundlage für die Mission, die zu ei-
ner der schillerndsten in der nicht gerade
an Spektakeln armen Geschichte des Mos-
sad zählen dürfte, legte der Oberrabbiner
Ovadja Josef 1975 im fernen Jerusalem. Da-
mals erkannte er eine in etwas mehr als
500 Dörfern in Nordäthiopien siedelnde
Gemeinschaft als Teil der zehn verlorenen
Stämme Israels an. Die Falasha („Volk oh-
ne Land“), wie sie in Äthiopien abfällig ge-
rufen wurden, nannten sich selbst Beta Is-
rael. Seit dem 16. Jahrhundert hatten Ge-
lehrte diskutiert, ob sie zum Judentum zu
zählen sind. Dafür sprach, dass die Beta Is-
rael den Sabbat feierten, den Speise- und
Reinlichkeitsvorschriften folgten, die Be-
schneidung vollzogen und die fünf Bücher
Mose in altäthiopischer Sprache lasen. Fei-
ertage wie Hannukah waren ihnen hinge-
gen unbekannt, auch der Talmud, in dem
die 613 Gebote und Verbote der Tora inter-
pretiert und ausgelegt werden.

Die Entscheidung von Rabbiner Josef
brachte den Beta Israel nicht nur die lange
vorenthaltene Anerkennung – sondern
auch das Recht zur Aliyah, zur Einwande-
rung und dem Erwerb der israelischen
Staatsbürgerschaft. Abgesehen davon,
dass die meisten von ihnen nur eine vage
Vorstellung vom „goldenen Jerusalem“
hatten, war in der Praxis schwierig, was
nun auf dem Papier einfach erschien: Der
sozialistische Offizier Mengistu Haile Mari-
am, der den äthiopischen Kaiser Haile Se-
lassie 1974 gestürzt hatte, verlangte ein ge-
heimes Gegengeschäft. Die Flugzeuge, mit
denen Israel äthiopische Juden abholen
wollte, sollten Waffen für seine Truppen
mitbringen. Als Israels damaliger Außen-
minister Moshe Dayan das ausplauderte,
kassierte Mengistu den Deal – nach nur
zwei Flügen, mit denen 125 Äthiopier aus-
geflogen wurden.
Dennoch verließen bald Tausende Beta
Israel ihre Heimat. Nicht per Flugzeug
nach Israel, sondern durch lange Fußmär-
sche in den benachbarten Sudan, bedroht
durch Hunger, Gewalt und Wegelagerer.
Der äthiopische Bürgerkrieg, separatisti-
sche Aufstände und Hungersnöte zwangen
sie dazu.
„Die wahren Helden in der Geschichte
sind deshalb auf keinen Fall die Agenten“,
meint der Ex-Geheimdienstler Gad Shim-

ron heute. „Sondern die Beta Israel. Was
die auf sich genommen haben, um ins Heili-
ge Land zu kommen – normale Israelis hät-
ten das nicht drei Tage überlebt.“
Shimron hat, getarnt als Hotelmanager,
drei Jahre geholfen, äthiopische Juden aus
Flüchtlingscamps nach Israel zu schmug-
geln. Bereits 1997 hat er über die „Operati-
on Brüder“ geschrieben: Sie begann 1979,
als der israelische Premier Menachem Be-
gin seinen Geheimdienst beauftragte, die
Beta Israel zu evakuieren. „Mossad Exo-
dus“ heißt das Buch, man merkt ihm an,
dass Shimron in seinem Leben nicht nur
Geheimberichte für den Dienstgebrauch
verfasst hat. Shimron war parallel zur
Agentenkarriere als Zeitungsjournalist tä-
tig, arbeitete als Radio- und TV-Modera-
tor. Heute schreibt er historische Romane
und beobachtet im Ruhestand, wie seine
beste Geschichte neue Kreise zieht.

Aus dem Stoff, der wie für Hollywood ge-
macht ist, wurde nun ein Netflixfilm: „The
Red Sea Diving Resort“ (siehe Kasten) er-
zählt von der Operation, „bei der wir so
ziemlich jede Regel gebrochen haben, die
im Handbuch stand“, wie Shimron es for-
muliert. Obwohl er mit dem Film nicht in al-
len Belangen glücklich ist, freut ihn, dass
die Geschichte nun ein breiteres Publikum
findet. „Vielleicht hilft der Film, Israel wie-
der ein besseres Ansehen zu verschaffen“,
sagt Shimron, der kein Fan der Regierung
des rechten Premiers Benjamin Netanjahu
ist. „Denn hey: Wann hat es denn so was
schon gegeben?“ Der Mossad habe als hu-
manitäre Organisation agiert, als der Rest
des Westens Benefizkonzerte veranstalte-
te. „Dort haben sie ‚We are the world‘ ge-
spielt und Geld für Äthiopien gesammelt,
von dem das meiste irgendwo versickert
ist.“ Er und seine Kollegen hätten dagegen
12000 Flüchtlinge evakuiert: „Das erste
Mal, dass weiße Männer Afrikaner nicht in
Ketten aus ihrer Heimat wegbrachten.“
Shimron stand mit den Filmproduzen-
ten in Kontakt, die entwickelten dann aber
ihr eigenes Drehbuch. Dennoch enthält
der Film so ziemlich alle aberwitzigen De-
tails, die in „Mossad Exodus“ zu lesen sind:
Wegen Sudans Lage am Roten Meer, an des-
sen nördlichem Ende sich die israelische
Hafenstadt Eilat befindet, kam beim Mos-
sad die entscheidende Idee auf: Man könn-
te doch die Äthiopier mit Schlauchbooten
zu israelischen Schiffen bringen. Bei einer
Erkundungsmission hatten Agenten eine
Ferienanlage an der Küste entdeckt, die ei-
ne italienische Firma fertig gebaut, aber
nie in Betrieb genommen hatte. Über eine
in der Schweiz ansässige Tarnfirma pachte-
te der Mossad das Gelände für 320 000 Dol-
lar für drei Jahre – eine ungeheuerliche
Summe damals im Sudan.
Im Sudan angekommen, holten Shim-
ron und seine Kollegen immer wieder
nachts äthiopische Juden aus Camps im Sü-
den des Landes. Dort lebten die Beta Israel,
ohne ihre jüdische Identität zu verraten –
das wäre im muslimisch geprägten Sudan
gefährlich gewesen. Über Untergrund-Ak-
tivisten teilten die Mossad-Leute den Ort
und Zeitpunkt mit, an dem sie mit ihren
zwei Lastwagen warten würden, dann ging
es auf den langen Weg zur Küste. „690 Kilo-
meter, alle 50 Kilometer ein Checkpoint:
Wir haben die Wachen mit Zigaretten und
Schnaps bestochen, aber auch mit Zwie-
back. Danach waren die Sudanesen komi-
scherweise verrückt.“ Wenn die Agenten
auf diese Weise nicht weiterkamen, bra-
chen sie mit ihren Wagen manchmal durch
die Absperrungen, sagt Shimron – und ver-
trauten darauf, dass die Geländewagen der
Verfolger wie so oft nicht ansprangen.
Einmal kam es aber zu einem Zusam-
menstoß mit sudanesischen Soldaten:
Nach zwei Nächten Fahrt und einem Tag
dazwischen, an dem sich die Agenten mit
den äthiopischen Juden in einem abgelege-
nen Wadi versteckten, bestiegen die Beta
Israel gerade die Schlauchboote, als eine
Patrouille das Feuer eröffnete. „Die waren
zufällig in der Gegend und eigentlich auf
der Jagd nach Schmugglern“, erzählt Shim-
ron. Der Mossad war nicht der einzige, der
klandestinen Bootsverkehr am Roten
Meer betrieb, die Gegend um Port Sudan
war ein Rückzugsort für Netzwerke, die

Schafe und auch weniger harmlose Güter
über das Rote Meer ins reiche Saudi-Arabi-
en schipperten. Ein Kollege Shimrons be-
gann geistesgegenwärtig, den Komman-
danten der heranstürmenden Soldaten an-
zuschreien, behauptete, gerade eine Grup-
pe Touristen zu einem Nacht-Tauchgang
zu verschiffen – und kam mit der Überrum-
pelungstaktik durch.
Neben solchen Zwischenfällen bedrohte
bald ein anderes Problem die Rettungsakti-
on: Touristen. Nach einiger Zeit, in der die
Agenten vorgaben, das Feriendorf zu reno-
vieren, mussten sie wohl oder übel Gäste
aufnehmen, um den Schein zu wahren.
Und was als bloße Tarnung gedacht war,
entwickelte sich zu einem heiß gehandel-
ten Geheimtipp in Europas Taucherszene
und unter in Sudans Hauptstadt Khartum
stationierten Diplomaten und Geschäfts-
leuten: „Das Hotel wurde leider sehr popu-
lär“, sagt Shimron. „Das wurde wirklich
zum Problem für uns. Frischen Fisch gab
es immer, aber die Versorgung mit ein-
fachsten Dingen wie Wasser und Strom
war schwierig.“
Manche Touristen wunderten sich zu-
dem genauso wie die sudanesischen Ange-
stellten, warum die Hotelchefs an Wochen-
enden verschwanden und völlig übermü-
det und verdreckt wieder auftauchten.
Aber nur einer, meint Gad Shimron, habe
sie durchschaut: Ein kanadischer Taucher
nahm eines Tages einen Mossad-Agenten
beiseite und sagte ihm auf den Kopf zu,
dass er und seine Kollegen nie und nimmer
Europäer seien, wie sie vorgaben. Nur Isra-
elis würden ihren Salat so dünn schneiden,
sagte der Gast – er hatte eine Weile in ei-
nem Kibbuz gelebt.
Nach dem Zwischenfall mit der Armee
änderte das Tourismuskommando des
Mossad sein Vorgehen: Die Agenten beka-
men in Israel einen Crashkurs im Einrich-
ten von provisorischen Landepisten; von
nun an holte nicht mehr die Marine, son-
dern die Luftwaffe die Flüchtlinge ab. „Zeit-
weise landeten nachts bis zu drei Maschi-
nen irgendwo in der Wüste“, erinnert sich
Shimron. „Das waren die betriebsamsten
Flughäfen im ganzen Sudan.“
Im April 1985, Gad Shimron war da be-
reits ins zivile Leben zurückgekehrt, droh-
te die wahre Bestimmung des Feriendorfs
aufzufliegen. Die Agenten flohen, wie sie
die Flüchtlinge evakuiert hatten: mit ei-
nem Flugzeug, das sie mitten in der Wüste
abholte. Schon lange hatte der Mossad an-
dere Operationen angeschoben, mit denen
mehrere Tausend äthiopische Juden eva-
kuiert wurden. Heute leben inklusive der
dort geborenen Nachkommen 125 000 von
ihnen in Israel. Vor allem viele aus der zwei-
ten Generation schafften den Aufstieg,
teils durch den Dienst in der Armee, teils
durch ein Studium – im Israel von heute
sind Beta Israel in der Politik, im diplomati-
schen Korps, in der Kultur- und Musiksze-
ne vertreten.

Ein rein positives Fazit möchte Gad
Shimron trotzdem nicht ziehen. Schon die
Reise mit Transportfliegern war für viele
Beta Israel eine traumatische Erfahrung –
viele hatten bis dahin in „biblischen Zei-
ten“ gelebt, wie Shimron es ausdrückt. An-
gekommen im Heiligen Land wurde der
Kulturschock noch größer, das „goldene Je-
rusalem“ war nicht das, von dem sie ge-
träumt hatten. Und auch nicht alle Israelis
waren bereit, Äthiopier als Mitbürger zu ak-
zeptieren. Natürlich habe auch Israel ein
Rassismusproblem, sagt Shimron. „Das
macht mich so etwas von wütend. Da
nimmt der Staat diesen riesigen Aufwand
und immense Risiken auf sich, um diese
Leute ins Land zu holen – und macht dann
bei der Integration alles falsch, was man
nur falsch machen kann.“
Soziale Probleme halten bis heute an.
Noch immer ist die Arbeitslosigkeit unter
den Beta Israel immens, noch immer wer-
den sie schlechter bezahlt als andere Israe-
lis, noch immer werden sie öfter Opfer von
Polizeigewalt – was Anfang Juli zu wüten-
den Straßenprotesten in mehreren israeli-
schen Städten führte. Vielleicht ist es mit
märchenhaften Erfolgsgeschichten ähn-
lich wie mit Tourismusbroschüren: Die
meisten sind nicht uneingeschränkt wahr.

Agenten


am Strand


Ein Netflixfilm erzählt die wahre


Geschichte, wie der Mossad von 1979 an


äthiopische Juden über ein Tauchhotel


am Roten Meer nach Israel brachte


von moritz baumstieger


Es gab nur ein Problem mit
der geheimenAktion:
Das waren die Touristen

Ex-Mossad-Agent
Gad Shimron
FOTO: REUTERS

Nicht alle Israelis waren
bereit,die Äthiopier als
Mitbürger zu akzeptieren

„Red Sea Diving Resort“ – der Film


Schnappschuss mit Diktator: Gad Shimron zeigt im Tauchhotel Arous auf das im
Sudan damalsobligatorische Porträt von Präsident Dschafar al-Numeiri.
Die Sicherheitskräfte ahnten nicht, dass das Feriendörfchen, das sich Touristen mit einer
bunten Broschüre (u.) präsentierte, in Wirklichkeit ein Geheimdienststützpunkt war –
und seine braun gebrannten Angestellten israelische Agenten.FOTOS (2): GAD SHIMRON

Die Beta Israel (hier: Michael K. Wil-
liams)bleiben Statisten. FOTO: NETFLIX

DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 HISTORIEGESELLSCHAFT 55


RELEASED


BY

"What's

News"

VK.COM/WSNWS

t.me/whatsnws
Free download pdf