Psychologie Heute - 09.2019

(coco) #1

Unterbrechungen – die Widersacher


Rund elf Minuten lang arbeite man im Schnitt un-
gestört an etwas, dann werde man unterbrochen.
Diese Zahl der amerikanischen Informationswissen-
schaftlerin Gloria Mark aus dem Jahr 2006 wird häu-
fig in den Medien zitiert und beruht auf 70 0 Stunden
Beobachtung. Sie lässt sich jedoch nur bedingt ver-
allgemeinern, denn sie basiert auf einer Stichprobe
von nur 24 Personen, die recht homogen waren: Al-
le Testpersonen arbeiteten im selben Unternehmen,
sie waren Programmierer, Analysten oder Manager.
Außerdem beinhaltet der Wert nicht nur Unterbre-
chungen von außen, sondern ebenso solche, die von
der Person selbst ausgingen – etwa Pausen. „Wie oft
man unterbrochen wird, ist sehr unterschiedlich. Bei
Krankenpf legern passieren sehr häufig Unterbre-
chungen, bis zu 150-mal in einer Schicht. In Behör-
den seltener, dann dauern sie jedoch länger“, sagt
Thomas Rigotti.
Das Perfide an den Störungen ist, dass andere
Menschen einen nicht nur aus der Konzentration
reißen, sondern meist auch noch etwas von einem
wollen, also unsere Aufmerksamkeit abziehen und
auf andere Aufgaben lenken, in die man sich erst
hineindenken muss. Die Menschen in der Untersu-
chung von Gloria Mark kamen deshalb erst 25 Mi-
nuten nach der Störung wieder zu ihrer ursprüngli-
chen Handlung zurück. Und mussten sich wieder
neu in das hineindenken, was sie vorher so unver-
mittelt verlassen hatten: „Bis wohin hatte ich dieses
Formular doch gleich gelesen? “ Manchmal fängt man
dann wieder ganz von vorn an. Unterbrechungen
machen die Arbeit also ineffizient – und störungs-
freie Zeit macht produktiv: In einer Feldstudie des
Psychologen Cornelius König von der Universität des
Saarlandes zeigten diejenigen Manager, denen man
täglich eine störungsfreie Stunde einräumte, größe-
re Leistung.
Wie sich Unterbrechungen auf unser Befinden
auswirken, haben Thomas Rigotti und seine Kollegin
Anja Baethge untersucht. Sie verglichen das Wohl-
ergehen von Krankenpf legern in unterschiedlichen
Situationen und an verschiedenen Tagen und fanden
heraus, dass es ihnen in Zeiträumen mit Multitasking
und vielen Störungen schlechter ging, als wenn sie
eines nach dem anderen tun konnten. Selbst abends
zu Hause grübelten sie nach unruhigen Arbeitstagen
viel und waren reizbar. Rigotti erklärt sich das über
die Frustration, nicht fertiggeworden zu sein. Wir
haben ein need for closure, ein Bedürfnis, Handlun-
gen abzuschließen – und das wird bei Unterbrechun-
gen immer wieder enttäuscht.


„Schreib-Aschrams“, also Tage irgendwo auf dem
Land mit viel Ruhe und wenig Internet, für die Dok-
toranden oder Schriftsteller viel Geld zahlen; gemein-
sam vereinbarte unterbrechungsfreie Stunden im
Büro; Apps wie Freedom, die eigens dafür kreiert
wurden, bestimmte Websites oder gleich den kom-
pletten Zugang zum Internet für eine zuvor festge-
legte Zeit zu sperren – all diese Maßnahmen zielen
auf unseren Wunsch, nicht abgelenkt zu werden. Da-
bei ist es nicht in jeder Situation möglich und sinn-
voll, diesem Bedürfnis zu folgen. Von einem Freund
mit Trennungsschmerz, einem Kind mit Zahnweh,
einem Kollegen, der allein nicht mehr weiterweiß,
sollte man sich durchaus stören lassen. Doch die Un-
terbrechungen durch soziale Medien kann man meist
guten Gewissens reduzieren. Von Smartphones, die
beständig blinken oder summen, erwarten wir be-
reits, dass sie uns ablenken. Da sie uns ständig be-
gleiten, reservieren wir ihnen auch immer Platz in
unserem Kopf. Das behaupten Forscher der Univer-
sität Texas. In ihrer „Brain-Drain Studie“ sollten Pro-
banden Denkaufgaben lösen. Sie bearbeiteten die
Anforderungen umso besser, je weiter das Handy
von ihnen entfernt lag. Die erfolgreichsten Teilneh-
mer waren die, deren Gerät sich in einem anderen
Raum befand.
„Wir konzentrieren uns, aber wir lenken unsere
Aufmerksamkeit im Grunde genommen beständig
auf das Falsche“, meint Neuropsychologe Erich Kas-
ten. „Man vergeudet eine nicht unbeträchtliche Men-
ge seiner Aufmerksamkeitskapazität auf Dinge, die
zwar angenehm sind, aber nicht wirklich wichtig und
nicht wirklich nützlich.“ Die Ressourcen des Gehirns
seien begrenzt und würden beim angestrengten Den-
ken verbraucht. „Im Alltag heben die meisten Men-
schen von diesem Ressourcenkonto ab, zahlen aber
nichts ein“, meint er und fügt einen Vergleich an:
„Die Leute laden heute regelmäßig die Batterie ihres
Smartphones, aber sie laden ihre eigenen Batterien
nicht mehr auf. Wir gehen mit unserem Handy bes-
ser um als mit unserem Gehirn.“

Wer sich fokussieren will, muss pausieren
Wir brauchen Ruhepausen für das Gehirn. Zeiten,
in denen es loslassen kann. Das gelingt beispielswei-
se gut beim Schlafen, beim Meditieren oder anderen
Tätigkeiten, die einen entspannen lassen, im Einzel-
fall beispielsweise beim Angeln, Putzen oder Gärt-
nern. Kasten empfiehlt, in den Pausen nicht ange-
strengt darüber zu debattieren, wie lange Merkel noch
Kanzlerin sein wird. Stattdessen rät er: „Gehen Sie
raus, betrachten Sie Wolkenformationen.“
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