Der Spiegel - 24.08.2019

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legen schütteln den Kopf, sie sind bitter
enttäuscht von der Regierung in Caracas.
»Die Regierung hat die Ölindustrie zu-
grunde gerichtet«, sagt Carlos Labrador,
52, mit ordentlich gekämmtem Haar und
lilafarbenem Hemd. »Die Arbeiterklasse
Venezuelas ist zerstört.« Zu Beginn seiner
Karriere, vor 20 Jahren, sei es das größte
Privileg gewesen, für PDVSA zu arbeiten.
»Heute muss man sich schämen.« Labra-
dor hat diese Firma geliebt. Acht Jahre hät-
te er noch arbeiten können, wurde aber
zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
»Die Erdölindustrie versprach mir Sta-
bilität«, sagt er. Bevor Chávez das System
zerstört habe, habe ein normaler Arbeiter
mindestens 1200 US-Dollar pro Monat
verdient. »Wir bekamen Zuschüsse, um
ein Haus zu kaufen. Es gab Supermärkte
und Kliniken für Ölarbeiter. Stipendien
für unsere Kinder, die zur Schule gingen.
Wir verstanden das als unser Recht auf ein
gutes Leben«, sagt er. »Heute verdient ein
Ölarbeiter fünf US-Dollar pro Monat.«
Der Niedergang des Staatskonzerns
habe spürbar vor etwa zehn Jahren begon-
nen, erzählen die Männer. Präsident Chá-
vez steckte die Milliarden aus dem Ölge-
schäft in Sozialprogramme, kümmerte sich
aber nicht um die Instandhaltung der An-
lagen. Nach einem Streik der Ölarbeiter,
der die Wirtschaft und Chávez’ Präsident-
schaft bedrohte, hatte er Anfang 2003
über 15 000 Arbeiter rausgeworfen, unter
ihnen viele Experten, und sie durch Zehn-
tausende Getreue ersetzt. »Er politisierte
die Industrie und stellte immer mehr Leute
ein, obwohl die Produktion sank.«
Das Patronagesystem trieb die Firma in
den Ruin, die Ölquellen warfen immer we-
niger ab, weil die kundigen Ingenieure fehl-
ten. Als der Ölpreis 2015 einbrach, hatte
PDVSA kein finanzielles Polster mehr.
Chávez’ Nachfolger Maduro erbte eine
Wirtschaft am Boden. Er unterstellte
PDVSA direkt dem Militär und ließ bald
immer mehr Geld drucken, um den Staat
am Laufen zu halten. Es folgte eine Hy-
perinflation, die das Land wirtschaftlich
in den Abgrund gerissen hat.
Diejenigen, die heute noch für PDVSA
arbeiteten, erzählen die Ex-Ölarbeiter in
Maracaibo, kannibalisierten die Firma.
»Sie stehlen Motoren, Kleber, Werkzeug.
Kürzlich soll eine Barke gesunken sein,
weil jemand eine Dichtung mitgehen ließ,
die aus Bronze war.« Sollte Maduro eines
Tages abtreten, könnten die USA und an-
dere westliche Investoren sehr viel Geld
damit verdienen, die marode Ölinfrastruk-
tur wieder instand zu setzen. »Falls dann
überhaupt noch etwas von den Gerippen
übrig ist«, sagen die Arbeiter trocken.
Nach dem Gespräch stehen sie auf und
treten ins Freie. Statt stolz einem Job in
der Ölindustrie nachzugehen, werden sie
weiter Eis oder Wasser verkaufen.


Die US-Sanktionen gegen Venezuela,
die besonders unter Trumps Sicherheits-
berater John Bolton deutlich verschärft
wurden, waren laut ihren Architekten nie
darauf angelegt, der Bevölkerung zu scha-
den. Vielmehr hätten sie dazu führen sol-
len, dass Maduro rasch fällt. Oder dass das
Militär ihn aus dem Amt zwingt, bevor die
Wirtschaft kollabiert. Das ist nicht aufge-
gangen. In Maracaibo sind die Sanktionen
deshalb ein willkommenes Mittel für die
lokalen Regierungsvertreter, sich als Opfer
fremder Mächte zu inszenieren.
Die Lage in Maracaibo habe mit »kon-
trolliertem Chaos« zu tun, sagt Juan
Romero, 50, Vizepräsident des Legislativ -
rates im Bundesstaat Zulia. Der enge Ver-
traute des Gouverneurs empfängt im Re-
gierungspalast im Zentrum Maracaibos.
Um seinen Hals baumelt eine Kette mit
Chávez’ Antlitz. Vor ihm liegen leere Blät-
ter, die er im Verlauf des Gesprächs mit
Zahlen, Pfeilen und Kreisen füllen wird.
Wieso steht es so schlecht um die Infra-
struktur in Maracaibo? Der Bundesstaat
Zulia habe aufgrund des Klimawandels mit
Temperaturen von mehr als 45 Grad Celsius
zu kämpfen, erklärt Romero. »Darauf ist
das Stromnetz nicht vorbereitet.« Außer-
dem hätten »externe Elemente« ein Tele-

kommunikationskabel unter der Erde durch-
geschnitten, um das System zu zerstören.
Wen meint er damit? »Kolumbien –
weil es ein hohes Interesse an dem Erdöl
unter dem Maracaibo-See hat. Und die
Vereinigten Staaten von Amerika, die Ve-
nezuela destabilisieren wollen.«
Wer ist an der hohen Inflation schuld?
»Eine Währungsverzerrung Kolumbiens.«
Es wird nicht ganz klar, was er damit
meint. Romero braucht mehr Papier. Auf
seinem Schreibtisch stehen Gummifiguren
der Regierenden, Maduro in der Mitte.
Wieso haben die Bewohner Maracaibos
523 Geschäfte geplündert? Er sagt, das
seien auch »Schläferzellen aus Kolumbien«
gewesen. Und Juan Guaidó sei verantwort-
lich. Der Oppositionsführer strebe eine
Machtübernahme im Bundesstaat Zulia
an. »Er will das Territorium der Regierung
Maduro fragmentieren und hier in Mara-
caibo eine Parallelregierung etablieren.«
Ist es nicht eine Bankrotterklärung für
die Regierung, dass vier Millionen Men-
schen das Land verlassen haben? »Die
Grenze zwischen Kolumbien und Vene-
zuela ist aus historischen Gründen schon
immer sehr durchlässig«, sagt Romero.

»Wir haben außerdem errechnet, dass es
sich um höchstens zwei Millionen Men-
schen handelt. Viele kehren zurück.«
Romero leugnet die Krise nicht. Nur hat
seine Regierung damit nichts zu tun.
Dabei hält die Welternährungsorganisa-
tion es sogar für möglich, dass in Venezue-
la eine Hungersnot ausbrechen könnte.
Im Stadtviertel Altos del Milagro Norte,
einem der gefährlichsten Slums der Stadt,
leben die Hungernden dieser Stadt. In je-
dem dritten Haus liegt ein alter Mensch
reglos auf dem Bett, viele sind kaum mehr
als ein Skelett. Babys mit aufgeblähtem
Hungerbauch schreien auf den Armen ih-
rer Mütter. Mehrere unterernährte Bewoh-
ner des Viertels sind zuletzt gestorben.
50 Männer und Frauen haben sich an
einem Morgen vor dem Haus der Familie
Sánchez versammelt. Sie wollen sich von
Guillermo Gallue verabschieden, er wurde
95 Jahre alt. Ein Wunder in diesen Zeiten.
Nun wird er zu Grabe getragen.
In ihrer Wellblechhütte hat Familie Sán-
chez einen Sarg aufgebahrt. Der Enkel
Davis Sánchez, 38, steht davor. Er sagt:
»Unser Großvater wurde so alt, weil er auf
einem Bauernhof gearbeitet hat.« Dort
habe er Milch und Fleisch gegessen, das
habe ihn stark gemacht. Im Slum gaben
sie ihm zuletzt eine Mischung aus Mehl,
Zucker und Wasser zu trinken. »Dabei hät-
te er Proteine gebraucht.« Jahrelang sei er
immer dürrer geworden. Ab und zu habe
er einen wertlosen Geldschein aus der Ta-
sche gezogen und geflüstert: »Ich möchte
ein Hühnchen.«
Der Enkel lächelte dann nur. Sie hätten
nie mit ihm darüber gesprochen, was aus
Venezuela geworden sei, sagt er. »Wir woll-
ten, dass er in Frieden stirbt.« Sánchez ver-
kauft Mangos. Seine Kinder sammeln Plas-
tik und durchwühlen den Müll. Zusammen
verdienen sie umgerechnet vier US-Dollar
im Monat.
»Wir können uns keine Beerdigung leis-
ten«, sagt er. Überall habe er sich Geld lei-
hen müssen, um das kleine Fest auszurich-
ten. Groß ist die Scham, dass er keinem
der Trauergäste, die sein Haus aufsuchen,
etwas zu essen anbieten kann.
Gegen Mittag kommt der Wagen, der den
Großvater zum Friedhof fahren wird. Vor-
her zieht die Beerdigungsgesellschaft mit
dem Toten durch die Straßen. Vier Männer
gehen mit dem Sarg auf den Schultern vo-
ran. Der Großvater, der Maracaibo als stol-
ze Ölmetropole Venezuelas kannte, liegt in
einem schmalen Kleiderschrank, den seine
Familie zu einem Sarg gezimmert hat.

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019 81

Ausland

Video
Der Kollaps von
Maracaibo
spiegel.de/sp352019venezuela
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Romero leugnet die
Krise nicht. Nur
hat seine Regierung
damit nichts zu tun.
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