Süddeutsche Zeitung - 02.09.2019

(John Hannent) #1
von frauke meyer-gosau

L


evi ist elf Jahre alt, und schon sein bis-
heriges Leben ist nicht ganz in den
üblichen Bahnen verlaufen. Geboren
in Paris, hat er mit seinen Eltern in Brüssel
und London gewohnt, bis sie vor einem
knappen Jahr nach Berlin gezogen sind.
Seither lagen Mutter und Vater miteinan-
der im Streit – mal drohte sie, ihren Mann
aus der Wohnung zu werfen, mal drohte er,
sie und das Kind zu verlassen. Aber nun ist
sie, eine Pathologin, an ihrem Arbeitsplatz
ermordet worden, und wie es scheint, war
Levi, unter ihrem Schreibtisch verborgen,
dabei, während sie starb. Er hat auch gese-
hen, wie anschließend die Leiche, an der
sie gearbeitet hatte, aus der Pathologie ent-
führt wurde.
Wie soll sein Leben danach weiterge-
hen? Wie soll es weitergehen für ein Kind,
das sich eben vor Beginn der Trauerfeier
im Krematorium die Urne mit der Asche
seiner Mutter schnappt, damit nach Hause
rennt und sich auf dem Dach in einem Zelt
verschanzt? Eine notdürftige Alarmanlage
mit großem Küchenmesser hat er auch in-
stalliert, denn wer weiß, wer sich da so al-
les anschleichen könnte, seinetwegen,
aber auch wegen der Urne.


„Levi“ ist Carmen Buttjers erster Ro-
man, und man kann tatsächlich nur stau-
nen: über das Tempo. Über den Ton. Über
die Einfälle, die da mit einer Selbstver-
ständlichkeit, wie sie nur ein Elfjähriger
aufbringen kann, hintereinanderweg über-
einanderpurzeln. Denn erst einmal ist Le-
vi, der sich zur Beerdigung seiner Mutter
statt eines weißen Hemds ein ausgebliche-
nes T-Shirt mit demQueen-Titel „Another
one bites the dust“ angezogen hatte, der
Ich-Erzähler. Er wird es auch im weiteren
Verlauf, im Wechsel mit der Stimme eines
allwissenden Erzählers, immer wieder
über lange Strecken sein: Was Levi sieht
und fühlt und denkt und tut, was er fürch-
tet und wünscht, bestimmt weitgehend
das Geschehen.
Und das ist natürlich eine einigermaßen
riskante Anlage für einen Roman, der für
Erwachsene geschrieben wurde: Sentimen-
talität oder ostentative Abgebrühtheit sind
nur zwei der Gefahren, die da am Erzähl-
Wegesrand lauern. Doch Carmen Buttjer
umschifft sie ziemlich mühelos, und das
liegt vor allem daran, dass Figuren und
Handlung nah am Realismus gebaut, zu-
gleich jedoch immer ein merkliches Stück
vom Möglichen oder Wahrscheinlichen
weggerückt sind: eine dunkel fantastische
Welt mit harten Wirklichkeitsanteilen.
So gibt es etwa auf der Gegenwartsebe-
ne des gesamten Buches keine einzige


Frau, die sich Levis annehmen könnte, er
ist von Männern umgeben. Sie alle wurden
auf unterschiedliche Weise ebenfalls aus
ihrer ursprünglichen Lebensbahn gewor-
fen, wie der gebürtige Tscheche Kolja, mitt-
lerweile um die sechzig Jahre alt, der seit ei-
niger Zeit gegenüber von Levis Wohnhaus
einen Kiosk betreibt, in dem der Junge
manchmal mithilft. Dort in einem Hinter-
raum entwickelt Kolja alte Fotos, denn ei-
gentlich ist er von Beruf Kriegsfotograf.
1977 war sein Vater in einem tschechischen
Gefängnis verschwunden; mit seinen bei-
den nächsten Menschen, der Journalistin

Joan und ihrem Kollegen Tom, war Kolja
danach seit dem Bosnienkrieg von einem
Kriegsschauplatz zum anderen gezogen.
Während er selbst eine schwere Beinverlet-
zung davontrug, kamen Tom und Joan bei
beruflichen Einsätzen um. Mit ihnen, den
Toten, spricht Kolja, wenn er allein ist.
Der andere seelisch Versehrte, der sich
von Zeit zu Zeit ebenfalls ein bisschen um
Levi kümmert, ist ein Nachbar, der etwa
dreißigjährige Vincent. Dessen Vater hat
sich elf Jahre zuvor mit dem Auto von einer
Brücke gestürzt, nachdem herausgekom-
men war, dass er über Jahrzehnte hin ins-

gesamt 10 Millionen Euro veruntreut hat-
te. Erst die Aussicht auf seinen Selbstmord
hatte für kürzeste Zeit einen zugänglichen
Menschen aus ihm gemacht: „Er hat nie
über etwas anderes geredet als Geld“, sagt
Vincent. „Außer an dem Tag, an dem er
starb. Da saß er mir am Frühstückstisch ge-
genüber und redete über Quentin Taranti-
no.“
Er selbst sammelt Schallplatten und
dealt mit Drogen, auch mit illegalem
Glücksspiel kennt er sich aus und erpokert
einmal zusammen mit Levi in einer
schummrigen Spielhölle eine nette kleine

Summe. Einzig über Levis Vater, David,
den dritten Mann in seinem Umkreis, wird
kaum etwas bekannt. Er ist ein viel beschäf-
tigter Anwalt, hochgewachsen, schwarz-
haarig, gut aussehend. Üblicherweise ar-
beitet er Tag und Nacht, er hat vielleicht
ein außereheliches Verhältnis gehabt und
fällt jedenfalls auf als einer, der seine allge-
genwärtige Wut nur schwer beherrschen
kann. Den eigenen Vater hat David nie ken-
nengelernt.
Da kommt also auf den 257 Roman-Sei-
ten eine ziemliche Menge an Lebensge-
päck zusammen, und mittendrin quirlt ru-
helos Levi umher, der, solange seine Mut-
ter lebte, bei ihr in der Pathologie seine
Hausaufgaben machte, Zeichentrickfilme
oder „Batman“ schaute und manchmal
noch spät abends, wenn sein Vater wieder
einmal nicht nach Hause gekommen war,
zu ihr ging, um sich unter ihrem Schreib-
tisch zusammenzurollen und zu schlafen.

Jetzt aber muss er, der sich mal einredet,
ein Tiger habe seine Mutter getötet und
wolle sich nun auch noch ihrer Urne be-
mächtigen, und dann wieder fürchtet, sein
Vater sei der Mörder, sich weitgehend al-
lein orientieren. Die Männer um ihn her-
um sind allesamt viel zu sehr Gefangene ih-
rer eigenen Verlusterfahrungen, als dass
sie sich dem verstörten Kind verlässlich zu-
wenden könnten.
Gäbe es nicht die raschen Szenenwech-
sel mitsamt Levis immer wieder überschie-
ßenden Assoziationen, seinen sprunghaf-
ten Aktionen und Ideen, und kämen dazu
nicht ein fixer Witz und eine Sprache, die
zumeist in poetischer Knappheit die deso-
laten Verhältnisse, in schnellen Dialogen
aber auch eine plötzlich aufblitzende Ko-
mik erfasst, dies alles wäre in seiner exis-
tenziellen Schwere wohl nicht gut auszu-
halten. So aber entsteht in „Levi“ ein sehr
spezifisches Menschen-Panorama aus
dem gegenwärtigen Berlin, in dem jeder –
vom Kind über den erfolgreichen Anwalt
bis zum Migranten – zwar an traumati-
schen Erfahrungen weit mehr zu bewälti-
gen hat, als er eigentlich verarbeiten kann.
In dem es aber immerhin Geschichten und
Sätze gibt, die für den Moment alle Schwär-
ze aufheben, die trösten können: „... als gä-
be es nicht nur zwischen uns, sondern
auch zwischen allen anderen einen Satz,
der gesagt werden musste, damit es weiter-
gehen konnte“. Dies ist nicht nur Levis
kindlicher Wunsch und Wunderglaube. Es
ist auch exakt das, was Carmen Buttjers so
besonderem Roman selbst gelingt.

Carmen Buttjer: Levi. Roman. Galiani Berlin Verlag,
Berlin 2019. 257 Seiten, 20 Euro.

von theresa hein

D


er Autor, von dem gesagt wurde, er
schreibe Stücke von sagenhaftem
Größenwahn, sitzt schmal und
groß vor einem lächerlich kleinen Bier in ei-
nem Café in der Altstadt eines elsässichen
Ortes, der eigentlich nur aus Altstadt be-
steht, aus Blumenkübeln und Storchennes-
tern und, seit er einen Wikipediaeintrag
hat, auch aus unverhältnismäßig vielen
Touristen. Wolfram Lotz sieht ein bisschen
müde aus, aber er redet so gern über das
Schreiben, dass ihm die Müdigkeit egal ist.
Lotz, 38, wird seit seinen Stücken „Eini-
ge Nachrichten an das All“ und „Die lächer-
liche Finsternis“ weithin für den besten
Dramatiker der deutschsprachigen Thea-
ter-Gegenwart gehalten, dann hat man lan-
ge nichts von ihm gehört, jetzt wurde im
Deutschen Theater in Berlin sein neuer
Text „Die Politiker“ uraufgeführt. Seine
Frau hat für ein paar Jahre eine Stelle in
Colmar angenommen und deswegen
wohnt er seit zwei Jahren mit ihr und den
Kindern in einem kleinen Ort in der Nähe.
Als die Entscheidung fiel, hatte er gerade ei-
ne Schreibkrise, wobei Lotz von sich selbst
sagt, dass die Schreibkrise sein Dauerzu-
stand ist.


Nach dem Erfolg, der erst einmal ausge-
halten werden wollte, kam der Umzug in
das französische Dorf gerade recht. Das,
was Wolfram Lotz „dieser komische Er-
folg“ nennt, bemisst sich einersetis an un-
zähligen Ehrungen: der Kleist-Förder-
preis, der Nestroy-Preis, er war „Nach-
wuchsautor des Jahres“ der Kritikerumfra-
ge vonTheater heuteund dann „Dramati-
ker des Jahres“. Seine Stücke wurden in
mehr als 15 Sprachen übersetzt, „Die lä-
cherliche Finsternis“ und „Einige Nach-
richten an das All“ wurden allein im
deutschsprachigen Raum bisher jeweils
um die fünfzig Mal inszeniert.
Der Erfolg bemisst sich andererseits
aber auch an den Texten selbst. Die große
Leistung seiner Stücke bestand darin, das
politische Denken ins Theater zurückzuho-


len, ohne das ästhetische Denken dafür auf-
zugeben. Das Stück „Die lächerliche Fins-
ternis“ in dem zwei orientierungslose deut-
sche Soldaten auf einem Floß „den Hindu-
kusch hinauffahren“ ist ein gutes Beispiel:
Das Stück ist gleichzeitig ein Zitat von Jo-
seph Conrads „Herz der Finsternis“, stellt
seine Zitathaftigkeit auch aus, und disku-
tiert trotzdem die Frage, was deutsche Sol-
daten eigentlich in Afghanistan verloren
haben. Diese Verbindung aus ironischer
Selbstreferenzialität und intelligentem po-
litischen Essayismus, die war 2014 neu im
deutschen Theater. Lotz hatte zwei ästheti-
sche Ansätze fusioniert, die bis dahin als
unvereinbar galten.
Lotz Texte sind deswegen so gut, weil er
in ihnen das Banale und das Existentielle
verbindet, ohne ins Theoretische abzudrif-
ten. Wenn Bojan Stojković, eine Figur aus
„Die lächerliche Finsternis“, zum Beispiel
erzählt, dass er unbedingt eine Markise
am Haus haben wollte und deswegen mit
seiner Frau stritt, stellt Lotz damit mensch-
liche Unnachgiebigkeit an einem alltägli-
chen Ehestreit dar. Und beschreibt dann
im nächsten Satz, wie das mit der Markise
ausgeht: Ein Nato-Bomber wirft im Koso-
vokrieg eine Präzisionsbombe ab, die Mar-
kise fängt Feuer und dann das Haus. Frau
und Kind verbrennen im Keller und
Stojković schimpft auf die vermaledeite
Markise: „Meine Nachbarn sind ja auch
nicht gestorben, obwohl Krieg war und es
war ja immer Krieg. Nur meine Familie ist
verbrannt, weil wir an unserem Haus die
Markise hatten. Weil ich unbedingt diese
Markise haben musste.“ Und weil es bei
Lotz, bevor es traurig wird, immer ziem-
lich komisch ist, weiß man nicht, ob man la-
chen muss, oder vielleicht muss man doch
eher weinen, und so muss man schließlich
beides bleiben lassen und immer weiter le-
sen. Seit „Die lächerliche Finsternis“, hat
Wolfram Lotz kein Stück mehr geschrie-
ben. Die Intendanten hätten danach noch
bei ihm angerufen und gefragt, ob er nicht
das gleiche Stück nochmal schreiben könn-
te, die „finstere Lächerlichkeit“, zum Bei-
spiel, sagt Lotz, aber das wollte er nicht.
„Natürlich hätte ich das machen kön-
nen, das Stück nochmal schreiben“, sagt
Lotz. „Aber ich weiß auch, dass es ganz
schlecht geworden wäre, weil ich mich
dann brachial gelangweilt hätte.“

Bei der Vorstellung, ein ähnliches Stück
wie „Die lächerliche Finsternis“ noch ein-
mal zu schreiben, windet Lotz sich derart,
dass man meinen könnte, ihm sei sehr
übel, deswegen glaubt man ihm. Lotz ist ei-
ner, der nicht anders kann, als es sich
schwer zu machen, zumindest beim Schrei-
ben, der nicht kokettiert, sondern perma-
nent reflektiert, und das bringt ihn an den
Rand der Selbstzerstörung.
Als Lotz im Elsass ankam, 2017, nahm er
sich vor, ein Tagebuch zu schreiben, auch
ein bisschen, weil er nicht wusste, was er
sonst schreiben sollte. Ein „Totaltage-
buch“ wurde es. Lotz stand um acht Uhr
morgens auf und schrieb Laternenpfähle,
Hühner, Weinberge in das Tagebuch, und
alles, was ihm dazu einfiel. Bis nachts um
eins, mit einer Pause für die Familie am
Nachmittag, eine „Wahnsinns-Struktur“,
sagt er, „die brauche ich aber einfach. Ich
bin jetzt nicht total irre geworden dabei,
aber gegen Ende wurde es schwierig“, das

gebe er zu. „Irgendwann wusste ich nicht
mehr, was ich schon geschrieben hatte und
was nicht, oder wem ich was erzählt hatte.
Oder was ich jetzt eigentlich geschrieben
und was ich nur gedacht habe.“
Nachdem das Jahr 2018, das Jahr des To-
taltagebuchs, vorüber ist, beginnt Lotz wie-
der an einem Text zu arbeiten, den er da-
vor bereits angefangen hatte. „Die Politi-
ker“ ist kein wirkliches Theaterstück in
dem Sinne, dass es eine dramatische Hand-
lung hätte. Es ist ein Gedicht, das gespro-
chen werden muss, es gibt keine dramati-
schen Figuren. Nur Text und eine feine,
kaum wahrnehmbare Dramaturgie, die al-
lerdings so zart ist, dass man nicht weiß, ob
im Theater überhaupt noch etwas davon
übrig bleibt.
Der Regisseur Sebastian Hartmann
hat in seiner Uraufführung am Deutschen
Theater das Stück als Epilog hinter Shake-
speares „König Lear“ gesetzt. Kaum ein
Wort hat Hartmann von „Die Politiker“ für

die Inszenierung gestrichen, von „King
Lear“ dagegen viel. Doch obwohl der Text
einem bei der Lektüre wahnsinnig auf die
Nerven geht, auch weil es eigentlich ein
„Theatergedicht“ ist, wird er noch als Buch
veröffentlicht. Über dessen Erfolg macht
sich Lotz keine Illusionen. „Ein Theaterge-
dicht zu verkaufen, das ist ja, wie wenn du
auf einer Speisekarte im Restaurant ,Kotz-
grütze’ stehen hast. Also was für wirklich
echte Liebhaber.“ Politisch ist der Text na-
türlich wieder, nicht nur wegen des Titels.
Lotz kritisiert die allgegenwärtige Isolati-
ons- und Abschottungspolitik und über-
trägt sie auf das Private, das Zuhause des
Einzelnen: „Die Politiker sind mittel bis
groß / nein nein / klein sind nur / die klei-
nen Leute / streichen um das Haus/ passt
auf! / Den Politikern sind die kleinen Leute
egal / und mir und euch doch auch! / Geh
doch schuften, kleiner Mann / wen interes-
siert’s / geh doch buckeln kleiner Mann /
geh ruckeln, kleiner Mann, geh zuckeln“.

Außerdem gibt es: Adolf Hitler, die Frage
nach dem Tod und eine Katze, die an einer
Tür kratzt. Lotz versammelt in seinem
Stück Themenkomplexe, die scheinbar
meilenweit auseinander liegen, mit einer
Leichtigkeit, von der man ahnt, dass sie
nur so leicht wirkt, weil eine irre Arbeit da-
hintersteckt: die Dauerkrise. Willkürlich
ist in diesem Gedicht nichts angeordnet,
und obwohl es wirkt wie ein assoziativer
Gedankenstrom, ist es doch genau auf den
Punkt getroffen: Die, die sich entfernt ha-
ben vom Menschen, das sind nicht die Poli-
tiker, das sind du und ich und Wolfram
Lotz im Elsass.
Das wahnsinnige Tagebuch, das er ge-
schrieben hat, ohne das es „Die Politiker“
nicht gäbe, existiert übrigens nicht mehr.
Nach dem Jahr, in dem er alles aufgeschrie-
ben hatte, hat er das Dokument gelöscht.
Das, was er sein „Hauptwerk“ nennt, hat er
zu großen Teilen vernichtet und findet das
auch nicht schlimm. Er musste das tun,
sagt er, da ist sie wieder, die Selbstzerstö-
rung. Er habe sich gefragt, warum ausge-
rechnet er das machen dürfe, jeden Tag auf-
schreiben, „von einem anderen würde
man es ja auch nicht lesen, ein anderer
dürfte das doch auch nicht erzählen“.

Lotz, eine Art Apotheken-Turnsäckchen
auf dem Rücken, schlägt dann noch einen
Spaziergang in die Weinberge vor, die er in
den vergangenen Jahren so oft in seinen Ta-
gebuch- und Schreibpausen besucht hat,
weil es da wirklich schön ist. Als wolle er
sich dafür entschuldigen, dass er vorher
ein bisschen viel über die Blumenkübel
und die Störche und das Dorf geschimpft
hat, vor allem über die Störche, „denen die
Dorfbewohner so in den Arsch kriechen“.
Man könnte ewig so weitererzählen, und
würde trotzdem, das zeigen die Stücke des
Autors Wolfram Lotz, nie ein vollständiges
Bild des Menschen Wolfram Lotz erhalten:
Die Figuren in seinen Texten treten immer
in form der Geschichten auf, die sie dem
Publikum von sich erzählen, egal, ob es Ru-
dolph Moshammer, Thilo Sarrazin oder
ein somalischer Pirat ist oder eben eine Fi-
gur namens „Wolfram Lotz“. Vor allem
aber geht es darum, dass das Bild, das man
von ihnen bekommt, nie fertig ist. „Das ist
vielleicht das, was mich wahnsinnig
macht. Dass dem immer noch was hinzuzu-
fügen ist“, sagt Lotz, und es ist wahrschein-
lich auch das, was ihn so über seinen Erfolg
staunen lässt – dass immer so getan wird,
als habe er jetzt die eine, beste, richtige Ge-
schichte gefunden. „Aber ich hab doch gar
nicht die Erzählung, die stimmt“, sagt Lotz.
Was bleibt einem da anderes übrig, als wei-
ter zu schreiben.

Unter Versehrten


In Carmen Buttjers Debütroman „Levi“ müssen ein Kind und


drei Männer lernen, mit dem Tod zu leben


Voland &Quistbaut an: Zusammen mit
der Übersetzerin Katy Derbyshire grün-
det der Independent-Verlag das englisch-
sprachiges ImprintV&Q Books, in dem
jährlich fünf bis sechs Titel erscheinen
sollen, aus den Bereichen Belletristik, er-
zählendes Sachbuch und Comic. Den An-
fang machen im Herbst 2020 Bücher
von Lucy Fricke, Sandra Hoffmann und
Francis Nenik, Bücher von Isabel Bog-
dan, Marcel Beyer und Ivana Sajko sollen
folgen. Außerdem übernimmt Vo-
land&Quist ab Januar 2020 die „Edition
Azur“, der Verleger Helge Pfannen-
schmidt führt das Label im Vo-
land&Quist-Programm weiter. Als Label
und Idee bleibe Azur erhalten, sagte
Pfannenschmidt demBörsenblatt, als ei-
genständiges Wirtschaftsunternehmen
nicht.

Die weltgrößte Publikumsverlagsgrup-
pePenguin Random Housevermeldet
unterdessen beeindruckende Zahlen: Im
ersten Halbjahr 2019 hat die Bertels-
mann-Buchsparte 1,7 Milliarden Euro
umgesetzt, ganze 11,3 Prozent mehr als
im vergleichbaren Vorjahreszeitraum.
Für das gute Ergebnis seien vor allem
einzelne Bestseller, hohes Wachstum bei
Audioformaten und Zukäufe verantwort-
lich, heißt es. Von Michelle Obamas Auto-
biografie zum Beispiel wurden 2019
noch einmal 2,8 Millionen Exemplare
verkauft, insgesamt sind es nun 11,5 Mil-
lionen weltweit. Das Hörbuchgeschäft
wuchs in den USA und Großbritannien
um mehr als 30 Prozent.

Zu den dreigrößten Buchkonzernenge-
hört Bertelsmann damit trotzdem nicht.
Auf dem Ranking der 50 größten befin-
det sich Bertelsmann hinter der RELX
Group, Pearson und Thomson Reuters
auf Platz vier. Unter den Top 50 befinden
sich in diesem Jahr neun Unternehmen
aus Deutschland, darunter Springer Na-
ture, die Holtzbrinck-Verlage, Klett, Wes-
termann und Cornelsen. Die Rangliste
wird seit 2007 von Livres Hebdo erho-
ben.

Vom8. bis zum 13. Oktoberfindet zum
dritten Mal das Internationale Literatur-
festivallit.RUHRstatt. Hauptschauplatz
der insgesamt 76 Veranstaltungen ist Es-
sen, vor allem das Unesco-Welterbe Ze-
che und Kokerei Zollverein. Zudem fin-
den Veranstaltungen in Bochum, Dort-
mund, Duisburg, Gelsenkirchen und
Oberhausen statt. Bei der Eröffnungsga-
la in der Essener Philharmonie am 8. Ok-
tober treten unter dem Motto „Story of
my Life!“ Eva Mattes, Peter Kurth, Saša
Stanišić, Wolfgang Niedecken und Mike
Herting auf. SZ

Die Figuren sind immer die
Geschichten, die sie
von sich selbst erzählen

Die Stücke verbinden das


Banale mit dem Existenziellen,


ohne je zu theoretisieren


KURZ GEMELDET


Carmen Buttjerwuchs in Deutschland und Finnland auf und studierte an der Kunsthochschule Kassel. „Levi“ ist für den
Debütpreis des Hamburger Harbour-Front-Literaturfestivals nominiert. FOTO: MARIA DOMINIKA VOGT

Das tun


die Politiker


Nach langer Pause gibt es endlich ein neues Stück


von Wolfram Lotz. Ein Besuch beim Dichter im Elsass


Man kann nur staunen


über das Tempo, über den Ton,


über die Einfälle


Ein Panorama, in dem jeder
mehr zu verarbeiten hat, als er
eigentlich verarbeiten kann

Sein Hauptwerk hat er gelöscht: der Dramatiker Wolfram Lotz. FOTO: ROMAN EHRLICH

DEFGH Nr. 202, Montag, 2. September 2019 (^) FEUILLETON 11
LITERATUR

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