Da Vinci dokumentierte alles bis ins kleinste Detail auf Papier, saubere
Notizen in Spiegelschrift, von rechts nach links. Einige davon existieren
noch heute als lose Blätter. Sie haben jedoch keine klare Ordnung: Ähn-
liche Themen tauchen häufig auf verschiedenen Papieren auf, deren Da-
tierungen oft Jahre auseinanderliegen. Das mache es sehr schwer, selbst
für Wissenschaftler, mit dem rasanten Tempo seines Intellekts mitzuhal-
ten, erklärt Paolo Galluzzi, Direktor des Museo Galileo in Florenz. Jedes
Mal, wenn er etwas Neues beobachtete, sei da Vinci eine Frage in den Sinn
gekommen, die zu einer weiteren führte, erklärt Galluzzi. „Er war in der
Tat ein Querdenker.“
Was da Vinci interessierte, wurde Gegenstand einer Art intellektuellen
Kreuzverhörs. Im „Codex Leicester“ untersucht er beispielsweise, wie
Wasser sich seinen Weg auf Berggipfel bahnt, und verwirft seine Überzeu-
gung wieder, dass Hitze es nach oben ziehe. Stattdessen zirkuliere Wasser
durch Verdampfung, Wolken und Regen. „Noch wichtiger als zu erkennen,
wie Bergbäche funktionieren, war es, den Weg zu dieser Erkenntnis zu
begreifen“, sagt der Historiker und Da-Vinci-Biograf Walter Isaacson. „Das
ist da Vincis Beitrag zur Entwicklung wissenschaftlicher Methoden.“
Da Vinci habe zudem Naturwissenschaft und Kunst vereint, Lehren
aus dem einen gezogen, um das andere zu befruchten, sagt Francesca
Fiorani, stellvertretende Dekanin für Kunst und Geisteswissenschaften
an der University of Virginia. Seine größte Gabe sei seine Fähigkeit gewe-
sen, Wissen sichtbar zu machen, sagt sie. „Genau darin liegt seine Stärke.“
NIRGENDS IST DAS ANSCHAULICHER als in da Vincis anatomischen Stu-
dien. Er sezierte Leichen, legte akribisch die tieferliegende Muskulatur
frei, um genau erkennen zu können, wie ein Bein sich beugt oder ein Arm
umarmt, und zeichnete alles ab. Auch einige seiner Zeitgenossen unter-
suchten Muskeln und Knochen, um den menschlichen Körpers besser
darstellen zu können. „Da Vincis Anspruch ging aber darüber hinaus“,
sagt Wissenschaftshistoriker Domenico Laurenza. „Sein Zugang zur Ana-
tomie war der eines echten Anatomen.“
Jedem seiner Pinselstriche liegt Forschung zugrunde. Seine Analyse
von Licht und Schatten ermöglichte ihm, Konturen mit unvergleichlicher
Feinheit erstrahlen zu lassen. Das traditionelle Zeichnen von Umrissen
ließ er hinter sich. Stattdessen schaffte er es mithilfe der Sfumatotechnik,
die Konturen von Körpern und Gegenständen weich verschwimmen zu
lassen. In seinen Gemälden schlug sich sein Wissen von Optik und Geo-
metrie deutlich nieder. Seine scharfe Beobachtungsgabe ermöglichte ihm,
den Darstellungen von Menschen emotionale Tiefe zu geben.
Da Vincis Wissensgier hatte aber auch ihren Preis. Er verärgerte Kunden,
weil er Lieferfristen verstreichen ließ, viele seiner Arbeiten blieben un-
vollendet. Wissenschaftler führen das auf seine Begeisterung für immer
neue Themen und seinen Perfektionismus zurück. Für da Vinci habe der
Arbeitsprozess im Vordergrund gestanden, glaubt etwa Carmen Bambach,
Kuratorin der Grafischen Sammlung am Metropolitan Museum of Art in
New York. „Es ging ihm nicht wirklich um Vollendung.“ Erkenntnisgewinn
war ihm stets wichtiger als vorzeigbare Ergebnisse.
Je mehr Wissen sich da Vinci aneignete, desto schwieriger wurde es
zum Beispiel für ihn ein Gemälde fertigzustellen. „Er malte immer weiter“,
erklärt Bambach, „Ihm wurde klar, dass man winzigste Abstufungen her-
vorbringen kann, in Tönen und in Übergängen vom stärksten, intensivs-
ten Licht bis zum tiefsten Schatten.“
Da Vinci war fasziniert
von Maschinen und
Baukunst. Er entwickel-
te Pläne für Brücken,
Gebäude und Militär-
ausrüstung. Ganz
besonders bemühte er
sich, eine Flugmaschine
für Menschen zu ent-
werfen. Mehr als zwei
Jahrzehnte verbrachte
er damit, den Tierflug
zu studieren. Auf die-
sem Blatt aus dem
„Codex Atlanticus“ ist
der Entwurf für einen
mechanischen Flügel
zu sehen.
FOTO: VENERANDA BIBLIOTECA AM-
BROSIANA/BRIDGEMAN IMAGES
LEONARDO DA VINCI
Der
Ingenieur
54 NATIONAL GEOGRAPHIC
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