SEITE 10·MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019·NR. 205 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
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or etwas mehr als dreißig Jah-
ren erschien ein Artikel in der
amerikanischen Zeitschrift
„October“, der die Fotografiege-
schichte neu ordnen sollte. In „The Body
and the Archive“ beschrieb Allan Sekula
die Fotografie als ein Medium, das bei
seiner öffentlichen Präsentation im Jahr
1839 sogleich Phantasien über neue
Möglichkeiten der Polizeiarbeit, der
Identifikation und Überwachung auslös-
te. Doch Erwartungen und reale Mög-
lichkeiten fielen weit auseinander. Be-
sonders deutlich wurde das am Porträt,
das, zuerst in Frankreich, schon um die
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein-
gesetzt wurde, um Kriminelle zu identifi-
zieren. Das erwies sich als sehr viel kom-
plizierter, als man zunächst angenom-
men hatte: Wie sollte man in den bald rie-
sigen Sammlungen von polizeilich erstell-
ten Fotos dasjenige finden, mit dem sich
ein unter verschiedenen Identitäten auf-
tretender Verbrecher eindeutig bestim-
men ließ? Zumal sich zwei verschiedene
Fotografien derselben Person oftmals
kaum ähnelten.
Es war die vielleicht überraschendste
und theoriegeschichtlich folgenreichste
Einsicht Sekulas, dass die Fotografie für
sich genommen gar nicht in der Lage sei,
Referenz zu erzeugen. Erst ihre Einbin-
dung in ein durchorganisiertes Archiv
mit seinen Ordnungssystemen, Querver-
weisen und Kombinationsmöglichkeiten
machte sie zu einem Instrument für die
Identifikation von Personen. Für Sekula
war es daher nicht das einzelne fotografi-
sche Bild, das Ähnlichkeit herstellte, son-
dern ein Möbelstück: der Archivschrank.
Hier deutete sich ein völlig anderes Kon-
zept des Porträts an als das von der Kunst-
geschichte bis heute favorisierte – kein re-
präsentatives Einzelbild, das ein ver-
meintlich einheitliches, autonomes Indi-
viduum darstellt, sondern eine Masse
von an sich kaum aussagekräftigen Bil-
dern, deren Wert sich daran erweist, ob
die in ihnen enthaltenen Informationen
ausgelesen und mit anderen Daten ver-
knüpft werden können.
Roland Meyers äußerst lesenswertes
Buch über die „Bildgeschichte der Identi-
fizierbarkeit“ knüpft an diesen Punkt an.
Es ist eine historische Studie, die kennt-
nisreich und anschaulich von den mühsa-
men Versuchen seit dem achtzehnten
Jahrhundert erzählt, Porträts operabel zu
machen: von Johann Caspar Lavaters
„Physiognomischen Fragmenten“ über
Cesare Lombrosos Kriminalanthropolo-
gie bis zu Alphonse Bertillons „anthropo-
metrischem Signalement“ gegen Ende
des neunzehnten Jahrhunderts, von der
verpflichtenden Einführung von Lichtbil-
dern in Pässen im frühen zwanzigsten
Jahrhundert bis zur Rasterfahndung. Die
Studie des Kunst- und Medienwissen-
schaftlers hat aber auch den Anspruch,
dem gegenwärtigen Schicksal des Por-
träts nachzuspüren, die Allgegenwärtig-
keit dieser Gattung und ihre Wirkmäch-
tigkeit in Zeiten von Social Media und flä-
chendeckender Gesichtserkennung zu
verstehen.
Eine zentrale These lautet, dass sich
die Versprechen der analogen Fotogra-
fie, die seit dem neunzehnten Jahrhun-
dert bestanden, erst unter den digitalen
Bedingungen der Gegenwart zu verwirkli-
chen beginnen. Das bedeutet allerdings
auch, dass sich in der Fotografie, die von
Anfang an zugleich ein verheißungsvol-
les und ein bedrohliches Medium war,
die sozial konstitutiven und die repressi-
ven Aspekte immer stärker gegenseitig
bedingen. Wer heute ein Foto von sich
oder seinen Freunden schießt, speist es
fast automatisch in eine gigantische digi-
tale Infrastruktur ein. Kaum eines der
mit dem Smartphone aufgenommenen
„privaten“ Bilder wird nicht mit anderen
Bildern und Daten – GPS, Adressbuch,
Facebook-Profil – verknüpft. Weil das Ge-
sicht dabei Meyer zufolge „zu einer Art
Anker zwischen der analogen und der di-
gitalen Welt geworden“ ist, spielt die Ge-
sichtserkennung eine so zentrale Rolle.
Die Big-Data-Algorithmen der geheim-
dienstlichen und kommerziellen Daten-
banken versuchen längst, aus den Korre-
lationen von Bildern, Bewegungsprofi-
len, Kontakten, E-Mails, Buchungsdaten
und Kreditkartenabrechnungen Muster
zu errechnen, aus denen sich unsere zu-
künftigen Absichten und Handlungen ab-
leiten lassen. Wir sind, so hat auch An-
dreas Bernard unlängst argumentiert, zu
„Komplizen des Erkennungsdienstes“ ge-
worden. Bereitwillig erstellen wir Profile
unserer selbst, ohne wirklich abschätzen
zu können, wie diese verwendet und wel-
che Informationen aus ihnen gezogen
werden. Wir erzeugen damit Identitäten,
von denen wir selbst wenig wissen.
Aus den Archivschränken – so könnte
man die historische Entwicklung kurz be-
schreiben – sind Datenbanken geworden.
Damit aber ist, so Meyer, nicht nur ein
quantitativer Wandel, sondern ein veri-
tabler „Maßstabssprung“ verbunden. Es
ist ein Verdienst des Autors, die histori-
schen Kontinuitäten herauszuarbeiten,
insofern sie heutige Phänomene ver-
ständlich machen, immer wieder aber
auch auf Brüche hinzuweisen. Bertillons
System der Identifizierung von Verbre-
chern mag ein „Vorläufer“ der automati-
sierten Gesichtserkennung- und -auswer-
tung gewesen sein – doch was genau ist
damit gesagt? Schließlich sind die Gefah-
ren, aber auch die Möglichkeiten, die
sich aus den gegenwärtigen Identifikati-
onssystemen ergeben, mit denen des
neunzehnten Jahrhunderts überhaupt
nicht mehr vergleichbar.
Den Begriff der „operativen“ Bilder
hat sich Meyer von Harun Farocki ge-
borgt. Der 2014 verstorbene Filmema-
cher hat sich in zahlreichen Essayfilmen
mit Bildern beschäftigt, welche Prozesse
steuern können und die immer häufiger
von Maschinen für Maschinen gemacht
werden – Industrieroboter, automatisier-
te Grenzkontrollen und militärische
Drohnen – , also nicht mehr auf menschli-
che Betrachter angewiesen sind. Damit
ist ein neuer, technischer Bildtypus be-
zeichnet, der unsere Gegenwart auf fun-
damentale Weise prägt. Für die Gesichts-
bilder zeigt Meyer nun eindrücklich, dass
sich die bis weit ins zwanzigste Jahrhun-
dert bestehende kategoriale Trennung
zwischen „repräsentativen“ und „operati-
ven“ Porträts, zwischen Bildern als Dar-
stellung und als Informationsträger, ja
selbst zwischen menschlichem und ma-
schinellem Sehen nicht mehr aufrecht-
erhalten lässt. Während früher gemalte
Porträts, Familienalben oder Schnapp-
schüsse von Freunden in Sphären zirku-
lierten, die von erkennungsdienstlichen
Bildern und Überwachungsaufnahmen
streng getrennt waren, so zirkulieren heu-
te „beinahe alle technischen Bilder in der-
selben medialen Infrastruktur“. Es ist die-
se Überschneidung der Sphären, die die
gegenwärtigen Verfahren der Gesichts-
erkennung so mächtig werden lässt.
Die Gattung Porträt stellte nie nur Ge-
sichter und Personen dar, sie bestimmte
immer auch, wie Gesichter angesehen
wurden, wer darstellungswürdig war und
was Individualität ausmachte. Entspre-
chend hoch waren die Erwartungen, die
sich – vor allem an das künstlerische –
Porträt knüpften. Die akademische Kunst-
geschichte hat an der Mystifizierung des
Porträts als Instrument der tiefenpsycho-
logischen Durchdringung autonomer Sub-
jekte kräftig mitgewirkt, und etwas hilflos
haben Kunsthistoriker bisweilen ver-
sucht, den hier „operativ“ genannten Bil-
dern den Porträtstatus einfach abzuspre-
chen. Tatsächlich sind die Erwartungen,
die an das einzelne Smartphone-Selfie,
das Instagram-Porträt oder die verpixelte
Überwachungsaufnahme gestellt wer-
den, in dieser Hinsicht viel niedriger:
Kaum jemand dürfte sich davon Auf-
schlüsse über die „ganze“ Person oder
den „Charakter“ eines Individuums erhof-
fen. Als Stücke eines unüberschaubaren
Puzzles aus Bildern und Daten aber ent-
falten diese Gesichtsbilder eine soziale
Wirkung, die sich kaum noch mit derjeni-
gen des klassischen Porträts vergleichen
lässt. Wie es dazu kam, erfährt man bei
der Lektüre von Roland Meyers wichtiger
Studie. JAN VON BREVERN
Tausende Uhren ticken um Otto herum.
Billige Armbanduhren muss er sich stän-
dig anschaffen. Ein Komplex, der den
Kampf mit der Zeit, ja mit dem Tod aus-
handelt. Darum geht es in diesem ersten
Roman der Münchner Autorin Dana von
Suffrin.
Ihre Protagonistin, die Lieblingstochter
des von Uhren besessenen Vaters, sieht
ihn immer wieder im Krankenhaus, ver-
traut sich einem anderen Besucher an und
durchlebt ein vertracktes, gebeuteltes,
aber auch erfolgreiches Leben in der
Vergangenheit, der sie selbst entstammt.
Rückblicke, Vorblicke, Gespräche mit der
Schwester, die der unerträgliche Vater
beschimpfte und heruntermachte, der Ver-
such, eine Familiengeschichte zu schrei-
ben, die durch die Augen eines Mannes,
durch seine Odyssee gebrochen wird. Ein
Roman, der nicht einfach zeigen will, dass
alles fließt, das wäre zu einfach. Sondern:
„Alles zerfließt“, was Otto mit seiner ma-
thematischen Ausbildung als „Deborah-
Zahl“ bezeichnet, denn diese Prophetin
sang, wie vor Gott sogar die Berge zerflie-
ßen – es kommt nur auf die Dauer der Be-
obachtung an.
Mit dem sterbenden Mann und seinem
Körper gehen Erfahrungen dahin, Einsich-
ten, Schweinereien und Beleidigungen,
Wohnorte, Krankenhäuser, Zionismus,
Deutschland, die Nazi-Autos und das Rei-
henhaus in Trudering im Münchner Südos-
ten. Bayern wird von vielen Siebenbürger
Sachsen bewohnt. So ist es kein Zufall,
dass er hierhin verschlagen wurde. Otto,
ein Siebenbürger Jude, wurde 1938 im ru-
mänischen Kronstadt geboren, wurde
Ingenieur, wanderte nach Israel aus, um
schließlich ins Land der Täter zu ziehen,
wo ihm andere Siebenbürger Sachsen eine
gewisse Heimat andeuten. Viermal hat er
für Israel gekämpft, zwanzig Jahre dort ge-
lebt, war ein echter Israeli geworden, der
„den Hummus mit Pitabrot vom Teller
wischte“, doch ging er, auch wegen einer
Scheidungsgeschichte, ins Ruhrgebiet, ins
Land der Nazis, wie seine Mutter meinte.
Später dann München, Reihenhaus, alles
billig, er ist ein Geizhals, das wird bald
klar. Überhaupt soll er nicht sympathisch
erscheinen, die Leser müssen sich an den
schnoddrigen Umgang mit ihm, dem Ju-
dentum, mit den Lebensgeschichten eines
Schwierigen gewöhnen. Hier wird Norma-
lität beschrieben, keine romantisierende
Version Israels oder des jüdischen Lebens
überhaupt. Härte des Lebens drückt sich
in einer oft harten Sprache aus, es wim-
melt von „Blöden“ und „Arschlöchern“,
Otto hat sie alle drauf. Und diese deut-
schen Ampeln sind „Scheißantisemiten,
die auf Rot schalten, wenn ein Jude in
einem billigen Auto kommt“.
Otto lässt sich nicht festlegen, er flucht,
liebt, lässt sich scheiden, ist stolz auf sei-
nen Panzerführerschein und redet doch
nie von seiner Soldatenzeit. Dann die Vor-
fahren, die vernichtet wurden oder flo-
hen. Dann wiederum seine Obsessionen –
das Billige, Moderne, Aldi, Lidl. Kinderfra-
gen an die Mutter: Was ist denn ein Heim,
und die Mutter antwortet, das sei ein Haus
für alte Nazis ohne Zähne. Für Otto ist
Deutschland dagegen heimlich ein Land,
in dem man als Jude nicht mehr ermordet
wird, auch wenn er es immer wieder mit
Worten niedermacht. Seine Siebenbürger
Freunde, das „Altherrenbataillon“, liebt
er, sie seien meist frei von Antisemitis-
mus. So kommt es auch zu einer Reise in
die alte Heimat, die Familie schaut sich
Transsilvanien an, das von der EU auf-
polierte Kronstadt, ja, und natürlich das
Schloss Bran, in dem der furchtbare Dra-
cula angeblich wohnte. Otto macht Vor-
schriften, ist beleidigt, klagt über die Prei-
se und sagt: Ihr könnt ganz alte Kühe wer-
den, für mich seid ihr Kinder. Die Tochter
erkennt daraus: Wir werden immer Kin-
der von Kindern bleiben, auch unsere
Kinder sind Kinder von Kindern. Es gibt
kein Entkommen aus der Unreife – sie ist
festes Erbgut der Menschheit.
Und darin liegt der Reiz dieses Buches,
in diesem hemmungslosen Aufgreifen der
menschlichen Unreife, diesem Hin- und
Hergerede und vor allem -geschimpfe.
Eine Familiengeschichte soll entstehen,
aber die besteht nur aus einem „Klumpen
Geschichten“, dem man nicht entkommen
kann. Man wird formlos darin, verknetet
und verknotet, und es erscheint geradezu
als ein Wunder, dass daraus noch ein
romanhaftes Buch entsteht.
Otto verliert die Fährte, die Töchter ver-
suchen, ihn wieder in die Gleise zu brin-
gen, doch dann ruft gleich eine wieder:
Otto, erzähl! Und denkt dabei an „Proust
und seine bescheuerten Madeleines“. Adi-
pöse Ratten und junge Welpen durchstö-
bern den Haushalt wie alte aufgescheuch-
te Träume im sterilen Reihenhaus – ja, er
wollte ein Haus ohne Geschichte – in der
Spießersiedlung. Haare liegen herum, die
Haut ist voller Erinnerung, und am Unter-
arm ticken sieben Uhren. Ein Leben im
- Jahrhundert, mit den Narben und Alb-
träumen des vorherigen versehen. Zwi-
schen politischen und geographischen
Spannungen springt der vielgequälte
Mensch im Dreieck. ELMAR SCHENKEL
„Ich möchte in Kafka verschwinden, in
seinen Sätzen verharren, keine anderen
mehr hören, büßen und verstummen.“
Kniefälle wie dieser sind nicht selten in
den jetzt überwiegend erstpublizierten
Aufzeichnungen über Franz Kafka aus Eli-
as Canettis Nachlass. Wie ist diese „unauf-
hörliche Selbsterniedrigung vor Kafka“,
die Canetti einerseits häufig formuliert,
andererseits aber enerviert zurückweist,
zu erklären? Zumal von einem, den Be-
scheidenheit und Selbstzurücknahme
nicht unbedingt auszeichnen? Als ihm
1981 der Nobelpreis verliehen wurde, trat
er diese Auszeichnung in seiner Dankesre-
de symbolisch an Broch, Kafka und Musil
ab. Als Abtretender behielt er in dieser
rhetorischen Generosität jedoch die Ober-
hand und bezeichnete sich selbstkritisch
als „Bescheidenheitsspieler“.
Mit Bescheidenheit hat Canettis Kaf-
ka-Verehrung offenbar wenig zu tun. Be-
sessenheit ist viel eher der Eindruck nach
Lektüre der jetzt vorliegenden Aufzeich-
nungen aus den Jahren 1946 bis 1994, der
hundertseitigen Studie „Der andere Pro-
zeß – Kafkas Briefe an Felice“ (1968), des
aus dem Englischen übersetzten Essays
„Proust – Kafka – Joyce“ (1948) sowie der
kurzen Rede „Hebel und Kafka“ (1980).
Merkwürdig, dass hier die Kafka-Preisre-
de von 1981 fehlt, die als Typoskript von
der Österreichischen Gesellschaft für Li-
teratur verwahrt wird. Auch sie beginnt
mit der Verbeugung, niemand verdiene
eine Auszeichnung in diesem übergroßen
Namen, und sie enthält das Bekenntnis,
dass Canetti über 51 Jahre hinweg Kafka
aufgenommen habe, „wie man sein eige-
nes Leben aufnimmt“. Diese Bemerkung
über die engste eigene Beziehung, den
ständigen Abgleich bis hin zur Identifika-
tion, bestätigt der Band. Die Mitherausge-
berin Susanne Lüdemann bedient sich in
ihrem klugen Vorwort dazu Harold
Blooms Begriff der „Einfluss-Angst“,
also jener Ambivalenz zwischen Gefolg-
schaft und notwendiger Abgrenzung. Tat-
sächlich ist in den Aufzeichnungen nicht
immer eindeutig zu entscheiden, ob mit
„er“ Kafka oder Canetti gemeint ist.
Canettis Meisterschaft der knappsten
Charakterisierung bewährt sich auch im
vorliegenden Fall. Joyce, Proust und Kaf-
ka bringt er auf die Formel „Welt der Wor-
te, der Empfindungen und des Zweifels“.
Joyce repräsentiert wortreich die Gegen-
wart eines einzigen Tages in Dublin,
Proust begibt sich durch sieben Bände auf
der Suche nach der verlorenen Zeit in ei-
nen nie endenden Empfindungs- und Er-
innerungsstrom, und Kafka verlängert
den Zweifel an sich und der Welt in Pläne
über zukünftige Ereignisse. Canetti
spricht vom „Prozess des Zweifelns“. Kon-
kret auf die legendäre Verlobung mit und
die Entlobung von Felice Bauer (das „Ge-
richt“ im Askanischen Hof in Berlin) be-
zogen, leitet er einen Prozess des Wer-
bens, Annäherns, Forderns, Verspre-
chens, Distanzierens, Demütigens, Zu-
rückweisens, Verurteilens aus der
siebenhundertfünfzigseitigen Korrespon-
denz ab.
Selten ist ein Briefwechsel mit ver-
gleichbarer Akribie, detektivischer Kom-
binatorik und kühner Anwendung auf das
literarische Werk analysiert worden. Ca-
netti traut sich da etwas, das unter Litera-
turwissenschaftlern verpönt ist: Er be-
trachtet die Prosatexte „Die Verwand-
lung“, „Das Urteil“ und „Der Prozeß“ als
Spiegelungen des Verhältnisses von Franz
und Felice, Verhaftung und Verlobung ge-
hen wie Verurteilung und Verstoßung
Hand in Hand. Mehr noch: Canetti setzt
sich zu dieser Verschränkung von Biogra-
phie und Dichtung noch selbst in Bezie-
hung, nicht zuletzt durch Überblendun-
gen seines aktuell erfüllenden Liebesver-
hältnisses zu Hera Buschor (H. B.) mit
Kafkas Felice Bauer (F. B.). Kafka hin-
gegen, den Asketen und Vegetarier, lässt
er sich selbst als „der magerste Mensch,
den ich kenne“, charakterisieren. Ganz
im Gegensatz zu sich selbst – „verachtest
du mein Gewicht, meine Wollust, meinen
Bauch?“ – ist so ein „Nicht-Körper“ à la
Peter Kien aus der „Blendung“ zur Liebe
und zum Leben eigentlich gar nicht fähig.
Damit gewinnt der Titel dieser Text-
sammlung an Bedeutung: Canetti revi-
diert hier erstens den biographischen Pro-
zess über Felice und Kafka, in dem der
Angeklagte mit Grete Bloch um den Rich-
terposten ringt. Er verbindet ihn zweitens
mit dem literarischen Prozess über Josef
K. – wobei in der „Einschrumpfung“ zum
Initial K. natürlich auch „Kafka, ein Riese
an Kleinheit“, steckt. Darüber legt er drit-
tens den poetischen Prozess von Kafkas
und seinem eigenen Schreiben. „Bedenke
die Prozesse, nichts sonst“, heißt es in ei-
ner Aufzeichnung, denn von „den Gebil-
den“, also den Werken, „führt kein Weg
zurück zu den Prozessen“. Nicht nur „Das
Urteil“ entsteht parallel zu den Krisen-
briefen in einer einzigen Nacht. Canetti,
der dem Hund und dem Maulwurf bei Kaf-
ka nachspürt, prägt im Broch-Essay das
Wort vom Dichter als dem fein wittern-
den „Hund seiner Zeit“.
Der Sinn für das Kleinste, das Gerings-
te, verbindet Canetti mit Kafka wie mit
Büchner oder Johann Peter Hebel. Über
Letzteren heißt es in Canettis Rede, dass
man im „Schatzkästlein des Rheinischen
Hausfreundes“ nie das Gefühl habe,
„dass es ein Geringstes gibt“. Nachdem
Canetti 1936 Ludwig Hardt daraus lesen
hörte, zeigte ihm der Rezitator Kafkas
Exemplar des „Schatzkästleins“ mit einer
Widmung an ihn, „um Hebel eine Freude
zu machen“. Diese Schätzung des Kleins-
ten machte Kafka wie Hebel für Canetti
unsterblich. Was aber den erbittertsten
Kämpfer gegen den Tod bewegte, wenn er
ans Sterben dachte, war die schreckliche
„Vorstellung, dass ich mich von Kafka
trennen soll“. ALEXANDER KOŠENINA
Roland Meyer:
„Operative Porträts“.
Eine Bildgeschichte der
Identifizierbarkeit
von Lavater bis Facebook.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2019.
468 S., Abb., geb., 39,– €.
Elias Canetti: „Prozesse“.
Über Franz Kafka.
Hrsg. von Susanne Lüdemann
und Kristian Wachinger. Hanser
Verlag, München 2019. 381 S.,
geb., 28,– €.
Dana von Suffrin: „Otto“.
Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln
- 240 S., geb., 20,– €.
Private Bilder gibt es nicht mehr
Ein Meister des Zweifelns und ein Riese an Kleinheit
Wie man sich unbescheiden unterwürfig zeigt: Elias Canettis lebenslanges Nachdenken über Franz Kafka, den „Hund seiner Zeit“
Antisemitische
Ampeln
Endstation Reihenhaus:
Dana von Suffrins „Otto“
Als die Porträts sich
vernetzten: Roland
Meyer beschreibt,
welche Pfade zur
automatisierten
Gesichtserkennung
heutiger Tage führten.
Facette im großen Bilder-Puzzle: Echtzeit-Demonstration eines Algorithmus zur Gesichtserkennung in Menschenmengen auf der diesjährigen Consumer Electronics Show in Las Vegas Foto Getty