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Dokumentarfilme
Alltag in der Nische
Selbst gut informierte Zeitgenossen
dürften sich das Leben europäischer
Juden derzeit als eine Existenz im Aus-
nahmezustand vorstellen, bedroht von
den Indizien eines neuen, aggressiven
Antisemitismus. Dass die Realität viel
komplizierter – und tatsächlich erfreu -
licher – ist, zeigt die TV-Dokumentation
»Jüdisch in Europa« (Regie: Christoph
Weinert), die am 3. September auf Arte
ausgestrahlt wird. Der Zweiteiler beglei-
tet die Berliner Filmproduzentin Alice
Brauner und den Basler Publizisten
Yves Kugelmann
auf einer Reise
durch die jüdi-
schen Gemeinden
europäischer Groß-
städte, von Mar-
seille über Berlin
bis Venedig. Das
Moderatorenduo
besucht wunder-
schöne Synagogen,
moderne Schulen
und schicke
koschere Restau-
rants; Rabbiner
und Lehrer kom-
men zu Wort,
Schriftsteller, Musi-
ker und ganz nor-
male Gemeinde -
mitglieder.
Und die Botschaft dieses ungewöhn -
lichen Roadmovies wird von Stadt zu
Stadt klarer: Der Judenhass, so präsent
und unerträglich er ist, beherrscht
keinesfalls den Alltag, die Menschen
leben im Schutzraum ihrer Familien
und Ge meinden, viele folgen
noch den jüdischen Traditionen.
Selbst wenn, wie in Budapest, Anti-
semiten sogar in großer Zahl im
Parlament sitzen, bleibt doch eine
durchaus komfortable Nische zum
Leben. Allerdings geht auch die unter-
schwellige Angst nie weg – diese Angst,
dass der Freiraum eines Tages zerstört
wer den könnte. DY
Nils MinkmarZur Zeit
Stunde der Scooter
Deutschland ist verliebt in
die Gegenwart. Die gesamte
Republik zum Weltkultur -
erbe erklären und dann alles
so lassen – das wär’s. Das
ganze Land ein Märklin -
modell im Maßstab eins zu eins,
und oben drüber strahlt die schwarze
Null, ewig. So kam das Land um den
Transrapid, eine neue Verfassung oder
um Bundeskanzler, die nicht von Union
oder SPD gestellt wurden. Aber nun
das. Seit der Rückkehr aus den Ferien
stehen elektronisch angetriebene, aus-
leihbare Roller an den Ecken der größe-
ren Straßen. Die waren vorher nicht da,
nun aber schon. Es hat sich also etwas
verändert. Nun teilt sich das Land in
zwei Lager: jene, die E-Scooter gefähr-
lich finden, und die anderen, die sich
wegen des Gesamtkonzepts Elektro -
mobilität Sorgen machen. Vermutlich,
so ein dieser Tage häufig gehörtes Argu-
ment, werden die kleinen Leihgeräte
das finstere Schicksal der Erdenbewoh-
ner nicht abwenden können. Putin,
Trump, der Klimawandel, das Wettrüs-
ten – nichts davon wird von den klei-
nen Sausern verbessert.
Andererseits trifft dieser Einwand
auf vieles zu – Siamkatzen, Schwimm-
bäder oder Spaziergänge bringen eben-
falls wenig im Kampf gegen das Böse,
dennoch sollte man nicht darauf ver-
zichten. Und, sicher – wenn man Pech
hat, legt man sich hin, und das hat man
von den ach so tollen E-Scootern. Aber
auch Autos, diese Stützen unserer Wirt-
schaft, sollen schon mal in Unfälle ver-
wickelt gewesen sein.
Die Bedenken sind groß, die Risiken
mannigfaltig, und die Wirkung für die
Weltgeschichte ist minimal – es macht
aber schlicht Spaß, an einem Sommer-
tag auf so einem Ding zu stehen und ein
wenig herumzusausen. Es ist nicht teuer,
kinderleicht und wendig genug, damit
man keine Unfälle verursacht. Natürlich
verbinden sich damit auch Fragen, etwa
jene, warum die deutsche Industrie
so lange gezögert hat mit den kleinen,
leistungsstarken Elektromotoren. Ob
im Fahrrad, im Trike, am Skateboard –
sie erfreuen ihre Nutzer, kaum einer
schwebt so dahin, ohne zu lächeln, und
das ist doch schon etwas in der heutigen
Zeit. Es ist Spaß von begrenzter Rele-
vanz. Nicht alles, was neu ist, bedeutet
oder verhindert den Weltuntergang –
selbst wenn es in Deutschland passiert.
An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
Elke Schmitter im Wechsel.
Literatur
Glamour des Niedergangs
Als sie New York auf Nimmerwieder -
sehen auf einem Kreuzfahrtschiff Richtung
Frankreich verlässt, verspürt die Heldin
einen »herrlich stechenden Schmerz im
Herzen«. Das beschreibt ziemlich genau
das Glück, das man beim Lesen dieses
grandios lustigen und hinreißend trauri-
gen Romans empfinden kann. Der kana-
dische Schriftsteller Patrick deWitt ist
1975 geboren und mit der auch verfilm-
ten Westernparodie »The Sisters
Brothers« bekannt geworden, sein neues
Werk »Letzte Rettung: Paris« spielt in
einem vollkommen anderen Genre. Es
erzählt mit einem Sinn für Schrulligkeit,
den man eigentlich im ländlichen Eng-
land zu Hause wähnt, von der New Yor-
ker Witwe Frances Price und ihrem
erwachsenen Sohn Malcolm. Sie führen
ein ebenso kostspieliges wie exzentri-
sches Leben in einer Protzwohnung in
Manhattan – bis ihnen plötzlich das Geld
ausgeht. Frances ist 65 und hat einst für
Schlagzeilen gesorgt, weil sie ihren Millio-
närsgatten, als er mit einem Herzinfarkt
zusammenbrach, einfach ein Wochen -
ende lang in der New Yorker Wohnung
liegen ließ. Sie wollte sich einen Ski-
Kurz urlaub in Vail nicht entgehen lassen.
Malcolm ist 32 und ein leicht verfettetes
Muttersöhnchen, dessen Liebesgeschich-
ten von Frances konsequent sabotiert
werden. Gemeinsam mit einem zeitweise
sprechenden Kater schippern Mutter und
Sohn nach Frankreich und erleben dort
Abenteuer, deren magischer Surrealismus
stark an die Filme des großen Kunstkino-
Eigenbrötlers Wes Anderson erinnert.
DeWitts Roman war in den USA ein
Überraschungserfolg, manche Kritiker
warfen ihm einen Mangel an Tiefgründig-
keit vor. Tatsächlich ist er nicht bloß
eine Hymne an Paris und ein sprachlich
souverän aufgekratzer Spaß, sondern er
bringt auch die flüchtige Schönheit des
Chics, des Benimms und der Oberflächen
auf geradezu metaphysische Weise zum
Leuchten. HÖB
Patrick deWitt: »Letzte Rettung: Paris«. Aus dem
Englischen von Andreas Reimann. Kiepenheuer &
Witsch; 320 Seiten; 15 Euro.
Brauner, Kugelmann (2. v. l.) in »Jüdisch in Europa«
AVE PUBLISHING / ARTE