Gemeinschaft gelebt, einem Kollektiv
ohne viel Neid – denn alle hatten gleich
wenig. »Was nützt mir die Freiheit, wenn
ich nicht wegfahren kann, weil ich kein
Geld habe?« Er habe mal die Linke ge-
wählt, aber das habe auch nicht geholfen.
Radecki ist nicht allein mit der Verklä-
rung der Vergangenheit, die mitunter
schwer erträglich sein kann. Cornelia
Berndt sitzt auf einer Bank nahe der Alten
Nikolaikirche im Herzen der brandenbur-
gischen Kleinstadt Prenzlau und schwärmt
förmlich von der DDR. »Wenn man nichts
mit der Stasi zu tun hatte, so wie ich, ging
es einem gut. Wir hatten alles, was wir uns
gewünscht haben.«
Früher habe sich der Staat gekümmert.
»Dass man eine Lehrstelle hat. Das war
egal, ob du die wolltest oder nicht, du
hast eine gehabt.« Ihre beiden Kinder wur-
den noch in der DDR geboren. Einst hat
die 53-Jährige in einer Metzgerei gearbei-
tet, wegen ihres kranken Herzens ging
sie vor zehn Jahren in Frührente. Nur
dank ihrer Witwenrente schaffe sie es, alle
Rechnungen zu bezahlen. Sie hat ihr gan-
zes Leben in Prenzlau verbracht, auch
nach dem Fall der Mauer. Bis heute ist sie
noch nie in ein Flugzeug gestiegen, hat
Europa nie verlassen. Sie hat nicht das Ge-
fühl, mit dem Mauerfall viel gewonnen
zu haben.
Neid hätten viele erst im vereinten
Deutschland kennengelernt, sagt sie. Plötz-
lich hätten die einen mehr gehabt als die
anderen. Berndt verbindet ihre Unzufrie-
denheit umstandslos mit dem Thema »Ein-
wanderer«. »Sogar die Ausländer« hätten
»mehr in der Tasche als wir«. Mit »wir«
meint sie »die Ossis«. Sie müsse bei Kik
Kleidung kaufen, doch Ausländer kauften
angeblich in den teuersten Läden ein. Sie
sagt, sie wisse noch nicht, wen sie wählen
werde. Bei der AfD habe sie Bedenken,
aber in ihrer Familie und ihrem Bekann-
DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019 17
Titel
Trauma Jobverlust
Arbeitslosenquote in Prozent
1991 2000 2010 2019*
ab 2005
geänderte Statistik
20
15
10
5
Quelle: Bundes-
agentur für Arbeit *Juli
Ostdeutschland
mit Berlin
Westdeutschland
tenkreis seien einige entschlossen, AfD
zu wählen.
Wer sich der ostdeutschen Seelevor-
urteilsfrei nähern will, sollte ins sächsische
Görlitz reisen. Dort, keine 200 Meter von
der polnischen Grenze entfernt, liegt die
sozialwissenschaftliche Fakultät der Hoch-
schule Zittau/Görlitz. Im zweiten Stock
eines ozeanblauen Gebäudes sitzt Raj Koll-
morgen, Professor für Management des
sozialen Wandels. Der 55-Jährige, geboren
in Leipzig, kann wie kaum ein Zweiter be-
schreiben, wie sich das Leben in Ost-
deutschland gewandelt hat – und was das
in den Menschen auslöste.
Kollmorgen beginnt Anfang der Neun-
zigerjahre mit dem Kahlschlag in der DDR-
Industrie und dem Wirken der Treuhand.
Fast 1,3 Millionen Ostdeutsche waren zu
dieser Zeit arbeitslos. Ihnen wurden blü-
hende Landschaften versprochen und An-
strengungen abgefordert.
Die meisten hängten sich rein und ar-
beiteten – so sie einen Job fanden – am
ostdeutschen Wirtschaftswunder. Allein,
es blieb aus. Kollmorgen erklärt: »Die Er-
kenntnis für die Ostdeutschen war: Wir
strengen uns an und holen trotzdem nicht
auf.«
Die Hoffnungen ruhten auf Gerhard
Schröder. Der hatte sogar eine Cousine im
Osten. Doch Schröder erfand Hartz IV, ge-
rade in dem Moment, als Ostdeutschland
die höchste je gemessene Zahl an Arbeits-
losen hatte: 1,6 Millionen. Die Bürger gin-
gen montags wieder auf die Straße, sie tru-
gen diesmal T-Shirts mit der Aufschrift
»Hartz IV nicht mit uns!!!«. Es half nichts.
Die Reform betraf den Osten überdurch-
schnittlich. Menschen, die arbeiten wollten,
aber keinen Job fanden, fürchteten um ihr
bescheidenes Vermögen und das kleine
Häuschen. Aus Sicht von Kollmorgen war
das eine »Enteignungs- und Entwertungs-
erfahrung«, die im Osten bis heute nicht
vergessen wurde. Die Wahlergebnisse der
SPD zwischen Rügen und dem Thüringer
Wald scheinen das zu bestätigen.
Nach der Hartz-IV-Reform sank die
Zahl der Arbeitslosen, doch die Lebens-
verhältnisse blieben unterschiedlich. Bis
heute zeichnet sich der Umriss der alten
DDR auf den Karten der Statistiker ab.
Dort liegen die abgehängten ländlichen
Räume in dauerhafter Strukturkrise, dort
ist das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner
kleiner, wird das niedrigste Gehalt gezahlt,
am längsten gearbeitet, ist das Armutsrisi-
ko am größten und das private Vermögen
am kleinsten. Selbst die Erbschaften sind
kaum der Rede wert.
Die Überalterung ist auch deshalb so
stark, weil über die Jahre 3,7 Millionen
Menschen in den Westen gegangen sind.
Meist junge, gut ausgebildete Ostdeutsche.
3,7 Millionen – das sind mehr Menschen,
so ziemlich alle Probleme Ostdeutschlands
versammeln. Die Heimat von Kanzlerin
Merkel gehört zu den ärmsten Gebieten
der Republik. Als das Berlin-Institut kürz-
lich die Zukunftsfähigkeit der deutschen
Landkreise untersuchte, landete die Ucker-
mark auf Platz 396 – von 401.
Die Reise gehtdurch die kleinen Dörfer
um die Kreisstadt Prenzlau, durchs Boit-
zenburger Land und Lychen, vorbei an
klaren Seen und hügeligen Wiesen. Wie
unzufrieden die Menschen hier mit der
Politik sind, kann Andreas Radecki aus
Seehausen erzählen.
Der Rentner im übergroßen Hemd und
mit verschlissener Schildmütze auf dem
Kopf sortiert in seiner Garage seine Boh-
nen, Zwiebeln und Zucchini. An einem
kleinen Stand vor seinem Haus verkauft
der 67-Jährige seit 14 Jahren seine Ernte,
um über die Runden zu kommen. Fragt
man ihn nach dem Zustand der Republik,
fällt die Antwort kurz und gallig aus: »Ar-
mes Deutschland.«
Als Radecki 15 Jahre alt war, 1966, ver-
ließ er mit Mutter und Bruder die Heimat
Polen, einen Koffer in der Hand. Sie schaff-
ten es bis in die Uckermark, damals noch
mitten in der DDR. Heute verkauft er sein
Obst und Gemüse, um seine Rente von
monatlich 830 Euro aufzustocken. »Wenn
mir das Haus nicht gehören würde und ich
Miete zahlen müsste, würde mir das Geld
nicht reichen.«
Wenn er von den DDR-Zeiten erzählt,
klingt Wehmut durch. »Ich kann darüber
nichts Schlechtes sagen.« Als Traktorist
arbeitete er bei der Landwirtschaftlichen
Produktionsgemeinschaft, wie der halbe
Ort. Wenn sich herumgesprochen habe,
dass ein Kollege ein Schwein schlachte, sei-
en alle dazugekommen, um zu essen und
zu trinken. Es war eine Dorfgemeinschaft,
die diesen Namen verdient.
Heute pendeln die meisten täglich in die
größeren Städte, teils bis nach Berlin. Ar-
beit gibt es hier kaum. Radecki zieht an
seiner Zigarette und sagt, dass heute jeder
seine Ruhe haben möchte. Ihm fehle die
Gemeinschaft. »Heute muss jeder nach
sich selbst schauen, um zu überleben.«
Woran es in Deutschland heute mangle?
Radecki antwortet, ohne zu zögern: »sozi -
ale Gerechtigkeit«. Im Fernsehen sehe er
Berichte über alte Leute in Berlin, die Fla-
schen sammeln müssten, um zu überleben.
Er versteht nicht, wieso die Regierung
Geld aufbringe für Menschen, die einwan-
dern, während es doch Mangel im eigenen
Land gebe. Die maroden Schulen, die
Schwimmbäder.
23 Jahre verbrachte Andreas Radecki
in der DDR. Auf seine Freiheit, so sagt er,
habe er gern verzichtet für die finanzielle
und soziale Sicherheit, die die DDR ihm
geboten habe. Er habe in einer friedlichen