Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

bäude mit riesigem Parkplatz. Sie besteht
aus zwei Leuten, einer Angestellten und
dem Teamleiter, der eine Kaffeemaschine
auf der Fensterbank stehen hat.
»Die älteren Leute fallen im Straßenver-
kehr zunehmend auf und verursachen da-
durch mehr Arbeit«, sagt er. Er reicht ein
Blatt Papier mit einer Statistik, Kreis Lip-
pe, »Ältere Kraftfahrer«. Die Anzahl derer,
die freiwillig auf ihre Fahrerlaubnis ver-
zichtet haben, lag im Jahr 2018 bei: 122.
Gerade möchte die Führerscheinstelle wie-
der jemanden zu einem Verzicht ermuti-
gen, einen 99-Jährigen, der sein Auto nicht
mehr fand. »Der Mann reagiert nicht auf
das Angebot«, sagt der Teamleiter. Also
muss er eine Fahreignungsuntersuchung
anordnen: Die Polizei oder das Gericht
schickt in solchen Fällen eine Nachricht,
dann, wenn schon etwas passiert ist. Und
die Führerscheinstelle verfügt eine gesund-
heitliche Prüfung. »Die Mehrheit der Un-
tersuchungen fällt negativ aus«, sagt er.
255 Prüfungen waren es allein im vergan-
genen Jahr.
Bis es zur Prüfung kommt, sagt er, riefen
ihn viele an und erklärten, warum sie den
Führerschein unbedingt brauchten. Wa-
rum der Bericht der Polizei falsch sei. Dass
sie unfallfrei seien seit 50 Jahren. Der
Kreis wirbt mit einer Broschüre, ältere Au-
tofahrer sollen auf Bus und Bahn umstei-
gen. »Fahren Sie drei Monate kostenfrei!«
Der Teamleiter der Führerscheinstelle
tippt auf eine Karte an der Wand, Kreis
Lippe, zeigt auf ein kleines Dorf im Nor-
den. Rott. Wer in Rott wohnt und in Lem-
go zum Arzt will, sagt er, muss erst mal
zur Bushaltestelle kommen, was dauern
kann in der Gegend. Er muss bis Bösing-
feld fahren, umsteigen in einen anderen
Bus, der aber nicht alle zehn Minuten fährt
wie in der Stadt. Da ist ein älterer Mensch
knapp zwei Stunden unterwegs pro Stre-
cke. Im Auto fährt er eine halbe Stunde
für 25 Kilometer von Haustür zu Haustür.
»Die wenigsten Kraftfahrer werden über-
prüft«, sagt er weiter. »Was wir hier auf den
Tisch kriegen, ist die Spitze des Eisbergs.«
Was müsste sich ändern?
»Mehr Kontrollen durch die Polizei.«
Leistungstest im Alter?
»Ich denke, wir kommen da nicht mehr
drum herum«, sagt der Mann aus der Füh-
rerscheinstelle.
Ein anderer Mann, auch aus der Praxis,
ist Thomas Bartelt, Polizeihauptkommis-
sar, der mit vier Sternen auf der Schulter
in der Kreispolizei Lippe Auskunft gibt.
»Der Leistungstest ab einem gewissen Al-
ter wäre eine Option«, sagt er. »Oder man
koppelt ihn an eine Pflegestufe, aber das
ist Sache des Verkehrsministers.« Dann er-
zählt er aus dem Polizeialltag, von Anru-
fen, weil jemand auf der Autobahn liegen
geblieben sei ohne Benzin und nicht wisse,
wo er sei. Neulich hat sich ein Verwirrter


nachts vorm Kindergarten festgefahren.
Andere fahren Schlangenlinien. Die alten
Leute zu stoppen sei oft nicht leicht, sagt
er. Bartelt nennt die Eskalationsstufen, mit
denen die Kollegen versuchen, auf sich
aufmerksam zu machen. »Stopp, Polizei!«,
sei die 1., es folge, »2.: die Lichthupe«, »3.:
Blaulicht« und dann »4.: das Horn«. »2
bis 3 ist normal«, sagt Bartelt. Es komme
auch 4 vor, wenn vorher keiner reagiert.
Sie sollten mehr aufschreiben, sagt der
Teamleiter aus der Führerscheinstelle.
»Klar, wenn ich die Kollegen sensibili-
sieren würde, hätten wir mehr Berichte«,
sagt der Polizist. Aber die Priorität der Poli -
zei seien die Unfälle mit schweren Folgen,
daran seien Senioren meist nicht beteiligt.
»Der Unfall mit dem neunjährigen Jun-
gen ist ein Gegenbeispiel«, sagt Bartelt
ernst. »Aus meiner Sicht ist er auf Alter
und Ablenkung zurückzuführen. Die Un-
fallstelle war eine lange Gerade.«
Drei Tage nach dem ersten Gespräch
möchte der Vater von Julian die Unfallstel-
le zeigen. Er steigt in das Auto, im Schup-
pen an Nägeln hängen zwei Surfbretter für
Kinder. Er lenkt den Wagen auf die Land-

straße, links eine Birkenreihe, rechts Felder.
Am Ende der Straße biegt er auf die lange
Gerade. Der Raps blüht grellgelb. Der Va-
ter stoppt, steigt aus, läuft ein paar Schritte
über den Asphalt bis an die Stelle mit einer
weißen Laterne im Gras. Freunde haben
an den Leitpfosten Gräser geknotet, und
eine Rose hängt da noch, trocken.
Das andere Kind, Manuel, wurde von
der alten Frau mit ihrem Wagen gestreift.
Er wurde im Krankenhaus geröntgt, zu-
sammen mit seiner Mutter. Ihre Hand war
voller Blutergüsse, so fest hatte sie mit der
Faust auf die Straße geschlagen.
Nachbarn hatten sie am Abend nach dem
Unfall nach Hause gefahren. Die Mutter
schnitt einen Apfel für Manuel, zog sich an,
lief hinaus, blind herum bis ins nächste Dorf.
Am Abend im Bett glaubte sie zu ersticken.
Drei Tage danach, am Freitag, ließen die
Kinder an Julians Schule Luftballons in den
Himmel steigen mit Entenkarten und spiel-
ten sein Lied: »The boy can sing the blues«.
Für den Stein auf dem Grab wählten die
Eltern Carrara, italienischen Marmor, für
die Umrandung norwegischen Granit, weil
er fast blau ist und Blau Julians Lieblings-
farbe war. Nach der Beisetzung fuhren sie
mit dem Auto an die Nordsee. Manuel saß
auf der Rückbank und schaute die Fahrt
über auf den leeren Platz von Julian.

Sie haben zwei Steine mit Julians Asche
befüllen lassen, einen roten, fast braunen,
einen noch dunkleren, auch, weil Manuel
etwas wollte, das er berühren kann.
Sein Vater trägt die Asche am Armband.
»Wie es geht, fragen die Leute manch-
mal«, sagt die Mutter, wieder am Küchen-
tisch an einem anderen Tag. Sie sagt dann,
wie soll es gehen? Es geht nicht.
Sie haben einen Therapiehund, einen
Shiba-Inu, Lola. Die Mutter hofft vor jeder
Nacht, von Julian zu träumen. Der Vater
weint, sobald er am Morgen wach wird.
Er baut Schränke.
Sie näht.
Manuel spielt Unfall mit seinen Playmo-
bilfiguren. Er will an der Straße wieder an
die Hand und drückt sie jedes Mal, wenn
ein Auto schnell an ihnen vorbeifährt.
Er wollte erst lange nicht in Julians Zim-
mer. Alles ist noch so, wie sein Bruder es
hinterlassen hat. Seine Kristalle, das Poster
mit den Schmucksteinen, das Boot von Bat-
man, die Zentrale mit Mischpult. Auf dem
Schrank eine Emoji-Tüte von seinem Kin-
dergeburtstag und ein schlapper Ballon. Die
Mini-Enten, die er gut zugedeckt hat mit
einem Taschentuch.
Manuel will sein wie Julian, ist jetzt lau-
ter, geht zum Schwimmtraining, erzählt
nach der Faschingsfeier von den Kostümen
der Kinder aus der 3A, Julians Klasse. Er-
zählt nichts von sich.
Die Mutter hat das eine Kind verloren
und sieht das andere leiden.
Seit dem Unfall bringt der Vater Manuel
selbst in die Schule. Jeden Morgen muss
er dazu am Fenster der Klasse 3A vorbei,
wo sein Blick seinen älteren Sohn sucht,
dann fährt er weiter zum Friedhof, um zu
schauen, ob die Kerze noch brennt.
Am Abend spielen sie Schumann im
Konzerthaus. Der Vater ganz vorn in dunk-
lem Anzug. Sie, verdeckt durch den auf-
geklappten Flügel, am Cello. »Jeder Ton
ist Vergangenheit«, sagt die Mutter.
Ihre Fahrräder stehen bei den Nach-
barn. Julians Rad ist entsorgt. Ein einziges
Mal ist sie noch an die Unfallstelle gefah-
ren und fand sein Rücklicht im Rasen.
13 Tage nach dem Unfall hatte Jutta G.
der Familie einen Brief geschrieben. Sie
sei »die Person, die in den tragischen Un-
fall verwickelt« sei. Sie schrieb: »So etwas
Schlimmes dürfte einfach nicht passieren –
und doch ist es passiert.«
Nach dem Unfall hatte die Frau ihren
Wagen ein Stück weiter auf dem Seiten-
streifen geparkt, war ausgestiegen. Vor dem
Rettungswagen hatten sich ihre Blicke kurz
gekreuzt, ihr Blick und der des Vaters.
Im Rettungswagen gab sie ihre Persona-
lien an, sprach »klar, sehr leise, den Blick
dauerhaft gesenkt«, so steht es in der Akte
der Polizei. Sagte: »Ich weiß nicht, wie es
gekommen ist. Ich habe die Radfahrer ge-
sehen, drei oder vier Stück. Aber dann

54 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019

Gesellschaft

»So etwas Schlimmes
dürfte einfach nicht
passieren – und doch
ist es passiert.«
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