Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

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Hongkong

Alte neue Viererbande


 Gemeinsam bringen sie es auf ehr-
würdige 298 Lebensjahre, doch für
Pekings Staatspresse sind sie die »neue
Viererbande«, die hinter der Protest -
bewegung in Hongkong stecke: Die
Anwälte Martin Lee, 81, und Albert
Ho, 67, der Verleger Jimmy Lai, 71, und
die frühere Spitzenbeamtin Anson
Chan, 79, kollaborierten mit »west -
lichen Anti-China-Kräften« und hetz-
ten die Jugend der Stadt auf. Am
»Schandpfahl der Geschichte« seien
bereits Plätze für sie reserviert, so die
Pekinger »Volkszeitung«. Als »Vierer-
bande« war ursprünglich eine Gruppe
um Mao Zedongs Witwe Jiang Qing
bezeichnet worden, die man für die
Exzesse der chinesischen Kulturrevolu-
tion (1966 bis 1976) verantwortlich
machte und zu bedingten Todes- oder
langjährigen Haftstrafen verurteilte.
»Ich weiß gar nicht, auf welcher Grund-
lage sie mich auf diese Stufe heben«,
kommentierte der Anwalt Ho, bis 2012
Chef der Hongkonger Demokratischen
Partei. »Wie sollen denn ein paar alte
Leute all diese Jugendlichen kontrollie-
ren?«, fragte sein Kollege Lee, der an
der Abfassung des Hongkonger Grund-
gesetzes beteiligt war. Regimegegner
als Volksfeinde zu brandmarken ist ein
bewährtes Muster chinesischer Pro -
paganda. Das Alter und die Lebens -
umstände der Betroffenen spielen
dabei keine Rolle. BZA

Rohingya

Heimkehr ausgeschlossen


 Bangladesch hat erneut vergebens ver-
sucht, Tausende Rohingya-Flüchtlinge in
ihre Heimat zurückzuschicken. Das Nach-
barland Myanmar hatte vergangene
Woche rund 3500 Menschen die Rück-
kehr angeboten – doch bis zum Stichtag
fand sich niemand, der dieses Angebot
annehmen wollte. Aus gutem Grund:
Auch zwei Jahre nach ihrer Vertreibung
muss die muslimische Minderheit in
Myanmar mit Diskriminierung rechnen.
Zwischen August 2017 und Dezember
2017 waren rund 740 000 Rohingya vor
der myanmarischen Armee geflohen. Die
Vereinten Nationen sprachen damals von
»Anzeichen eines Völkermords«. Es war
die bis dahin größte Flüchtlingsbewe-
gung, wenn auch nicht die erste: Insge-
samt mehr als eine
Million Rohingya
haben in den vergan-
genen Jahren in Ban-
gladesch Zuflucht
gefunden. Im Süd -
osten des Landes ist
das größte Flüchtlings -
lager der Welt ent-
standen. Bangladesch,
das selbst gegen Über-
bevölkerung und
Armut kämpft, drängt
darauf, dass die
Flüchtlinge in ihre
Heimat zurückkeh-
ren. Myanmars Regie-


rung hat sich offiziell dazu bereit erklärt,
die Vertriebenen wiederaufzunehmen.
Menschenrechtsorganisationen kritisie-
ren, dass die Rohingya dort noch immer
systematisch verfolgt würden. Schon im
November war eine Rückführung geschei-
tert, weil sich kein einziger Flüchtling
zurücktraute.
Myanmar erkennt Rückkehrer nach
wie vor nicht als Bürger an, sondern
räumt ihnen lediglich das Recht ein, die
Staatsbürgerschaft zu beantragen. Die
Flüchtlinge fürchten, dass sie so auch
künftig keinen Zugang zu Bildung und
Krankenversorgung haben werden. Viele
haben Angst um ihr Leben. Erst im Juli
hatte das Australian Strategic Policy Insti-
tute anhand von Satellitenaufnahmen
dokumentiert, dass in den zerstörten Dör-
fern der Rohingya keine Anzeichen eines
Wiederaufbaus erkennbar sind. LH

Slowakei

»Demokratie läuft


nicht auf Autopilot«


Zuzana Čaputová, 46, ist Quereinsteigerin:
Sie war Anwältin und Umweltaktivistin,
bevor sie im März überraschend zur Präsi-
dentin gewählt wurde. Sie gilt als liberal
und proeuropäisch.

SPIEGEL: Vor anderthalb Jahren wurden
der slowakische Investigativjournalist Ján
Kuciak und seine Verlobte ermordet. Wie
sehr hat diese Tat des organisierten Ver-
brechens Ihr Land verändert?
Čaputová: Wir können die Tragödie als
eine Probe für die Zivilgesellschaft ver -
stehen, die sie bestanden hat. Die Öffent-
lichkeit wurde aufgeweckt, noch nie
sind nach der Wende so viele Menschen
auf die Straßen gegangen – sie waren
entschlossen, konstruktiv und friedlich.
SPIEGEL: Wie haben die Menschen das
Verbrechen interpretiert?

Čaputová: Die Demonstranten
haben auf die Durchsetzung
des Rechtsstaats gepocht. Als
Anwältin weiß ich, dass wir
in der Slowakei im Prinzip ein
funktionierendes Rechtssys-
tem haben. Wir haben aber
einige Probleme mit Verbin-
dungen, die es zwischen der
Welt des Verbrechens und
hohen Beamten gab. Jetzt ist
die Öffentlichkeit dafür sen -
sibilisiert. Das ist das Verdienst von Ján
Kuciak.
SPIEGEL: Sie haben bewiesen, dass man
in Osteuropa Wahlen ohne Nationalismus
und Hassparolen gewinnen kann. Ist der
Rechtspopulismus an Grenzen gestoßen?
Čaputová: Wir stehen an einer Wegkreu-
zung, nicht nur in der Slowakei, sondern
auch in den älteren Demokratien des Wes-
tens. Ob der Populismus weiter an Macht
gewinnt, hängt davon ab, ob die klassi-
schen Parteien, die konstruktiven Kräfte,
in der Lage sind, sich zusammenzuschlie-
ßen und dagegenzuhalten. Meine Wahl

hat gezeigt, dass die Menschen
durchaus Persönlichkeiten
zuhören, die offen sind, die
nicht lügen oder manipulieren.
SPIEGEL: Wie erklären Sie
sich, dass 30 Jahre nach der
Wende in Osteuropa eine star-
ke EU-skeptische Stimmung
um sich greift?
Čaputová: Auf der einen Seite
zeigen Umfragen, dass das Ver-
trauen in die EU auf einem his-
torischen Hoch ist. Gleichzeitig leben
europaskeptische Parteien davon, Angst
zu verbreiten, vor allem vor Migration.
Da wird viel gelogen. Auch in den west -
lichen Ländern gibt es das Problem, das
zeigt sich zum Beispiel beim Brexit.
SPIEGEL: Viele Menschen in Osteuropa
wirken erschöpft von den Veränderungen.
Erklärt das die Hinwendung zum Rechts-
populismus?
Čaputová: Die Demokratie ist ein Lern-
prozess, der nie aufhört. Wir haben auch
nach 30 Jahren nicht ausgesorgt. Die
Demokratie läuft nicht auf Autopilot. JPU

MOHAMMAD PONIR HOSSAIN / REUTERS
Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch

GENE GLOVER / DER SPIEGEL
Čaputová
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