Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

A


m Ende ging es schnell. Im Stundentakt empfing
Staatspräsident Sergio Mattarella die Parteien zu Ge-
sprächen. Er wollte herausfinden, wie es weitergehen
könnte, nachdem Italiens Premier Giuseppe Conte
am Dienstag mit seinem Rücktritt die Regierung aus Fünf-
Sterne-Bewegung und Lega beendet hatte. Wären Neuwahlen
der richtige Weg? Oder ein Regierungswechsel in der noch
bis 2023 laufenden Legislaturperiode? Und vor allem: Wohin
sollte das Land politisch steuern, mit Blick auf die Flüchtlings-
frage, die Wirtschaftskrise und sein Verhältnis zu Europa?
Drei sehr unterschiedliche Politiker konnten die Wähler
zuletzt mit Visionen begeistern, indem sie wahlweise auf
europafreundliche Wirtschaftsreformen, eine Art Bürgernähe
oder Nationalismus setzten;
alle weckten bei den Italie-
nern eine Art Wunderglau-
ben. Bis sie nach relativ kur-
zer Zeit ihre Ämter verloren.
Nun geht es darum, welche
dieser Strömungen das Land
in den nächsten Jahren prägt.
Das erste Versprechen
gab der Sozialdemokrat
Matteo Renzi ab. Er wollte
als Ministerpräsident 2014
»jeden Monat eine Reform«
verabschieden und verfolgte
eine Agenda, die an Gerhard
Schröder erinnerte. Renzi
liberalisierte den Arbeits-
markt, er lockerte den Kün-
digungsschutz und senkte
Steuern. Viele Bürger jubel-
ten ihm zu. Als schnelle Er-
folge ausblieben, ließen sie
ihn schon 2016 bei einem Re-
ferendum wieder fallen. Wie
kein Zweiter in seiner Partei macht er sich nun für eine Koa -
lition seines Partito Democratico (PD) mit den Fünf Sternen,
dem populistischen Movimento 5 Stelle (M5S), stark.
Später wagte sich Luigi Di Maio vor, der strahlende Wahl-
sieger von 2018. Sein M5S wollte mit dem alten Parteiensys-
tem brechen und die Bürger in den Mittelpunkt stellen. Kan-
didaten fürs Parlament wurden per Onlinewahl bestimmt.
Man gab sich als postideologische Bewegung. In einem Brief
an die Italiener schwärmte Di Maio von »einem Staat für
Menschen, die das Beste vom Leben wollen«, aber es blieb
unklar, wie er das schaffen wollte. Die wirtschaftliche Lage
verschlechterte sich, der M5S fiel während seiner kurzen Re-
gierungszeit von 33 auf 17 Prozent bei der Europawahl und
wurde vom kleineren Koalitionspartner Lega überholt. Di
Maio ist nach dem Regierungsrücktritt nur noch geschäfts-
führend im Amt und müsste bei Neuwahlen fürchten, mit
seiner Partei unter 10 Prozent zu landen. Ein Bündnis mit
dem PD würde den M5S vor der Bedeutungslosigkeit retten.
Und nun der dritte Hoffnungsträger, Matteo Salvini. Er
weckte den Nationalstolz der Bürger. »Italiener zuerst«,

versprach der rechte Lega-Chef und schottete sein Land
konsequent ab. Sein harter Kurs gegen Migranten, Flücht-
lingshelfer und die EU zahlte sich für ihn aus: Als seine
Umfragewerte auf fast 40 Prozent kletterten, träumte
Salvini von der »ganzen Macht« und kündigte das Bündnis
mit dem M5S auf, es war eine übermütige Wette auf Neu-
wahlen. Seit Dienstagabend ist auch der Innenminister nur
noch geschäftsführend im Amt.
Bei Neuwahlen würde er wohl Ministerpräsident, wo-
möglich unterstützt von den rechtsextremen Fratelli d’Italia
und der Berlusconi-Partei Forza Italia. Doch wenn das
Zweckbündnis seiner Gegner steht, landet er voraussichtlich
für Jahre in der Opposition.
Sosehr sich Renzi, Di
Maio und Salvini unterschei-
den – das zugrunde liegende
Problem bleibt trotz der ra-
santen Gemütsschwankun-
gen der Wähler unverändert:
Die Wirtschaft in Italien
kennt nur zwei Zustände, sie
stagniert oder schrumpft.
Die Arbeitslosigkeit verharrt
auf hohem Niveau. Die Per-
spektiven schwinden, vor al-
lem für junge Leute. Jahr für
Jahr verlassen sie in Scharen
ihr Land.
Und nun? Die Autorin
Michela Murgia hat die Fünf-
Sterne-Bewegung, zurzeit
die stärkste Kraft im Parla-
ment, mit Tofu verglichen:
»ein völlig geschmackloses
Produkt«, sagt sie. »Wenn
man Salz hinzugibt, wird es
herzhaft, und mit Zucker
süß.« Salvini war es gelungen, den Geschmack der Sterne zu
bestimmen und sie für seine nationalistische Agenda einzu-
spannen. Jetzt steckt die erst 2009 als Spaß-und-Protest-Be-
wegung gestartete Partei erneut in einem Wandlungsprozess.
Taktisch sehen PD und M5S in einem Bündnis die beste
Chance, einen Ministerpräsidenten Salvini für die nächsten
vier Jahre zu verhindern. Eine in diese Richtung weisende
Allianz zeichnete sich bereits ab, als beide Mitte Juli im EU-
Parlament für Ursula von der Leyen als Kommissionspräsi-
dentin stimmten.
Wirtschaft, Bürgernähe, Nation: Die drei Schlagworte, mit
denen Renzi, Di Maio und Salvini ihre Kampagnen führten,
werden auch das nächste Kabinett beschäftigen. Ob ein Anti-
Salvini-Bündnis zustande kommt, ob es hält, ob es gemein-
same politische Ziele findet oder doch noch platzt, wird sich
schnell zeigen. Staatspräsident Mattarella hat den Parteien
bis Dienstag Zeit gegeben, sich zu verständigen.
Die Unzufriedenheit der Wähler angesichts der Wirtschafts-
lage wird hingegen nicht so bald verschwinden, egal wer die


  1. Nachkriegsregierung Italiens übernimmt. Frank Hornig


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Mit Tofu regieren


AnalyseNach dem Rücktritt von Ministerpräsident Conte kämpfen Sozialdemokraten,
Fünf-Sterne-Bewegung und Lega-Chef Matteo Salvini um die Macht in Italien.

Ausland

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019

CLAUDIO PERI / EPA-EFE / REX
Ex-Partner Salvini, Conte
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