Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1
Minute, bis Jets die Menschen gezielt be-
schossen. Zudem schickte Assad zusätz -
liche Truppen seiner wichtigsten Verbän-
de, der »Tiger-Kräfte«, der Republikani-
schen Garde und der 4. Division in die
Region. Russland lieferte neue Ausrüstung,
darunter Nachtsichtgeräte. An der Front
östlich von Chan Scheichun sollen erst-
mals seit Monaten auch wieder Kämpfer
der libanesischen Hisbollah und iranische
Einheiten präsent sein. Inwieweit sie tat-

sächlich mitkämpfen, geht aus den Mit-
schnitten ihres Funkverkehrs nicht hervor.
Nachdem Assads Luftwaffe 2017 Chan
Scheichun mit dem Nervengift Sarin an-
gegriffen und mehr als 90 Menschen getö-
tet hatte, ließ US-Präsident Donald Trump
einen Militärflughafen bombardieren. Als
das Regime nun die Stadt ohne chemische
Waffen zusammenschießen ließ und 130
Zivilisten tötete, schaute der Rest der Welt
tatenlos zu. Am Dienstag zogen sich die

84


Ausland

5 km

TÜRKEI

SYRIEN

Aleppo
Idlib
Ariha

türkische
Militärposten

Bab
al-Hawa

M5

Chan
Scheichun

Murik

Assads Armee und Verbündeten
Anti-Assad-Rebellengruppen, darunter Dschihadisten
türkischem Militär
Kurden

Gebiete unter Kontrolle von

Quelle:
syria.liveuamap.com
(Stand 22. August)

syrische
Armee und
Verbündete

syrische
Armee und
Verbündete

Karten-
ausschnitt

S


chon das Brotholen, sagt Samir Ber-
ri, konnte den Tod bedeuten. Berri
war einer der letzten Bewohner von
Chan Scheichun. Der Ingenieur wollte
nicht fortgehen aus seiner Heimatstadt im
Süden der syrischen Provinz Idlib. Doch
die Truppen von Diktator Baschar al-Assad
hatten sie zu einer Todeszone gemacht:
»Wer tagsüber auf den Straßen war, wurde
von den Jets oder Drohnen entdeckt und
beschossen. Wer nachts unterwegs war
und die Scheinwerfer einschaltete, eben-
so«, erzählt Berri am Telefon mit dem bit-
teren Lachen des Davongekommenen:
»Der letzte Laden, der noch Brot verkauf-
te, hatte nur noch nachts geöffnet.«
Als eine Rakete Anfang August wenige
Meter neben seinem Haus einschlug, war
er unterwegs – Brot holen. Er fand seine
Frau und sein Kind angststarr unter der
Treppe kauern. Am nächsten Morgen flo-
hen sie in den Norden der Provinz, in ein
Dorf, das bislang selten angegriffen wird.
Andere hatten weniger Glück: Der Pis-
tazienfarmer Najib Sarmani hatte die Stadt
schon verlassen, aber wurde von einer
Drohne auf seiner Farm gesichtet, kurz da-
rauf von einem Jet unter Beschuss genom-
men und am Bein verletzt. Sein Cousin
wollte ihn noch in Sicherheit bringen. Doch
der Jet kam zurück. Sarmani konnte nicht
weglaufen und starb im Geschosshagel.
Auch die Lehrerin Fatin Kerawan war
bereits aus Chan Scheichun geflohen, kam
vergangene Woche nur kurz in die Stadt
zurück, um Kleidung zu holen. Doch ihr
Schwager verfuhr sich in der Dunkelheit,
machte die Scheinwerfer an. Als sie anhiel-
ten und ausstiegen, schlug eine Rakete ein.
So erzählen es Rettungskräfte.
Schon seit dem Frühjahr haben die Pan-
zer von Assads Armee, die Jets der syri-
schen und der russischen Luftwaffe Sy-
riens letzte verbliebene Rebellenhochburg
Idlib im Nordwesten des Landes ange -
griffen. Die letzte Behelfsklinik von Chan
Scheichun, die Bäckereien, die Pump -
station der Wasserversorgung versanken
in Trümmern. Fast alle der schätzungs -
weise 80 000 Bewohner und 30 000 Bin-
nenvertriebenen verließen die Stadt.
Doch seit Anfang August machten die
Angreifer explizit Jagd auf Menschen:
Fortwährend waren Drohnen über der
Stadt unterwegs, übermittelten die Koor-
dinaten von einzelnen Fußgängern und
Motorradfahrern. Oft dauerte es keine


letzten Rebellen aus Chan Scheichun zu-
rück. Am Mittwochnachmittag marschier-
ten die siegreichen Truppen ein, am
Abend schlossen sie weiter nördlich einen
Belagerungsring um die gesamte Gegend.
Mehrere Orte, von allen Bewohnern und
fast allen Rebellen verlassen, liegen in die-
ser Zone – und eine türkische Militärbasis
mit etwa 200 Soldaten.
Die Eroberung Chan Scheichuns ist ein
Triumph für Assad, aber vor allem das vor-
läufige Ende eines Machtpokers zwischen
den beiden Autokraten, die über Idlibs
Schicksal entscheiden: Assad-Unterstützer
Wladimir Putin und der türkische Präsi-
dent Recep Tayyip Erdoğan, dem letzten
internationalen Verbündeten der islamis-
tischen Rebellen.
Erdoğan hatte sich seit Beginn des Bür-
gerkriegs gegen Assad gestellt. Doch seine
Interessen galten bald weniger der Freiheit
der Syrer: Ab Mitte 2016 waren türkische
Truppen in den Norden der Provinz Alep-
po einmarschiert, offiziell zum Kampf ge-
gen den »Islamischen Staat«. Nach dessen
Untergang zogen die türkischen Truppen
jedoch mitnichten ab, sondern holten Ver-
waltung, Banken, sogar die türkische Post
PTT nach, die gemeinsam still und leise
an einer De-facto-Annektierung des Land-
strichs arbeiten. 
Idlib will er nun vor allem aus einem an-
deren Grund verteidigen: Sollten Assads
Truppen auch in dieser Provinz durchmar-
schieren, würde dies eine erneute Flücht-
lingsbewegung in Richtung Türkei auslö-
sen. Eine Horrorvorstellung für die türki-
sche Regierung, die bereits mehr als
dreieinhalb Millionen Syrer beherbergt
und deshalb bei Wählern zunehmend unter
Druck gerät. Ankara hatte zuletzt begon-
nen, Flüchtlinge nach Idlib zu deportieren.
Putin wiederum betrachtet Idlib als ein
Druckmittel, um die Türkei weiter aus der
Nato zu lösen.
Vergangenen September hatten sich
Moskau und Ankara auf eine Waffenruhe
für Idlib verständigt. Russland sah damals
von einer gemeinsamen Offensive mit As-
sad auf Idlib ab. Im Gegenzug sollte Haiat
Tahrir al-Scham (HTS), jene Rebellengrup-
pe, die einst Nusra-Front hieß und al-Qai-
da nahestand, entwaffnet und zerschlagen
werden.
Das Gegenteil geschah: HTS wurde zur
mächtigsten Gruppe in Idlib. Armee und
Geheimdienst der Türkei konnten den Ex-
tremisten nicht Einhalt gebieten – oder
wollten nicht. Jedenfalls ließen sie mehre-
re Gelegenheiten verstreichen, als andere
Rebellengruppen zunehmend verzweifelt
um Hilfe baten im Kampf gegen HTS. Es
ist wohl so, dass Erdoğan die kampferprob-
ten Dschihadisten gern als Reserve in der
Hinterhand behielte für ein Vorhaben, das
ihm ohnehin wichtiger ist als die Eindäm-
mung Assads: den Krieg gegen die kurdi-

In der Todeszone


SyrienIn der Provinz Idlib macht das Assad-Regime Jagd
auf Menschen. Die Türkei, Schutzmacht
der Rebellen, hat der Offensive kaum etwas entgegenzusetzen.

»Ich befehle, auf dem
Schlachtfeld die Kinder
vor den Erwachsenen
umzubringen!«
Free download pdf