Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1
für sauberen Radsport einsetzen, unter-
mauern.

Kittel unterschriebeinen Zweijahres -
vertrag über insgesamt 2,4 Millionen Euro.
Doch die Rechnung von Katusha Alpecin
ging nicht auf. Kittel konnte nicht an seine
Siege vom Vorjahr anknüpfen.
Er sucht nach Worten, tut sich schwer,
wie deutlich er sein soll. Auch weil ihn eine
entsprechende Klausel in seinem Auf -
hebungsvertrag limi tiert. Mehr als einmal
betont Kittel, dass alles, was er sagt, auf
seinem subjektiven Empfinden beruhe.
»Die Saison hatte noch nicht richtig an-
gefangen, und sie waren schon unzufrie-
den«, sagt er, »ich habe kein Vertrauen ge-
spürt, sondern nur Druck. Druck. Druck.«
Katusha Alpecins Antwort auf die ausblei-
benden Erfolge sei stets gewesen: mehr
Training, bis zu sechs Stunden täglich. »Ich
war jedoch nie jemand, der so viel trainie-
ren musste«, sagt Kittel. »Viel entscheiden-
der bei mir war immer, dass ich frei und
leicht im Kopf bin.« Er habe mehrfach ver-
sucht, das deutlich zu machen. Vergebens.
Die Gesamtsituation, sagt er, habe bei
ihm dazu geführt, dass er erstmals eine
Idee davon bekam, warum Sportler dopen.
Nämlich dann, »wenn sie völlig am Arsch
sind, zugleich aber noch mehr leisten sol-
len«. Zuvor habe er immer mit Unver-
ständnis darauf reagiert.
Doping und Radsport, diese Themen
sind untrennbar miteinander verzahnt. Kit-
tel gilt als Vorzeigefigur im Antidoping-
kampf. Er sagt, dass er nie leistungsstei-
gernde Substanzen genommen habe.
Dennoch hängt ihm eine Geschichte bis
heute nach, obwohl es kein Doping war:
Als 18-jähriger Amateur wurde er zweimal
am Olympiastützpunkt in Erfurt mit UV-
bestrahltem Blut behandelt. »Ich war zu
der Zeit viel krank, und mein Arzt dort
versicherte mir, dass diese alternative Heil-
methode gut bei Infekten sei, dass ich
damit wieder schneller gesund würde.« Sie
soll jedoch auch dazu führen, dass sich die
Sauerstoffaufnahme im Blut verbessert.
Kittel hält nichts von Illusionen. Natür-
lich gebe es weiterhin Doping im Rad-
sport, sagt er. Es werde nur nicht mehr
systematisch betrieben wie Anfang der
Neunziger, vielmehr dopten Sportler in-
dividuell. So, wie es die Erfurter Geschich-
te Anfang des Jahres gezeigt habe. Da
wurde bekannt, dass ein Mediziner aus
der thüringischen Landeshauptstadt über
Jahre Blutdoping durchgeführt hatte.
»Das war ein Schlag ins Gesicht für alle
sauberen Sportler wie mich, und es hat
natürlich auch das Radfahren wieder in
Misskredit gezogen. Ganz davon abgese-
hen ist es ein wahnsinniger Imageschaden
für meine Heimat.«
Für Kittel gibt es nur zwei richtige Ant-
worten auf Doping. Erstens den Nach-


wuchs frühzeitig aufzuklären, »schon bei
den Kindern eine Linie im Kopf einzuzie-
hen«. Und zweitens es noch mehr zu kri-
minalisieren: »Die Ermittlungen gehören
in die Hände der Polizei, die Täter straf-
rechtlich verfolgt und lebenslang gesperrt.«
Laut Kittel gibt es relativ gute Anzei-
chen dafür, ob jemand dopt. »Ist jemand
19 Jahre alt und macht einen riesigen Leis-
tungssprung, ist das erklärbar. Macht er
das nach drei Jahren im Profigeschäft noch
mal, dann wäre ich richtig vorsichtig.«
Katusha Alpecin hat sich in puncto Do-
ping viele freiwillige Selbstverpflichtun-
gen auferlegt. »Unsere Koffer konnten
jederzeit durchsucht werden«, sagt Kittel.
Regularien wie diese seien damals in sei-
ne Entscheidung mit eingeflossen, zu
diesem Team zu wechseln. Doch durch
den enormen Druck, dadurch, dass der
Mensch nicht im Mittelpunkt stehe, sagt
Kittel, gefährdeten sie bei Katusha Alpe-
cin unbewusst all das, wofür sie eigentlich
stehen.
Kittel holt sein Smartphone hervor, öff-
net eine App, die dokumentiert, wann er
wie viel trainiert hat. »Als Sportler beob-
achtest du dich permanent«, sagt er. Am

Ende habe er nur noch an sich gezweifelt,
sich stundenlang über seine Trainingszeiten
der Vorjahre gebeugt, ob er am Ende nicht
doch falsch läge. Er schüttelt den Kopf.
Plötzlich lacht er auf, zieht die Augen-
brauen hoch. »Oh, das hatte ich auch noch
nie«, sagt er und zeigt auf einen Wert, der
angibt, wie belastet der Athlet ist. Wäh-
rend der Tour de France etwa stand dort


  1. Jetzt zeigt sein Display eine pinke
    Null. Er ist komplett ausgeruht.
    Seine erste Saison bei Katusha Alpecin
    ist eine Achterbahnfahrt. Hier und da ge-
    winnt Kittel mal eine Etappe, aber die rich-
    tig großen Erfolge bleiben aus.
    Im Juli 2018 heizt der sportliche Direk-
    tor die angespannte Situation öffentlich
    an, bezeichnet Kittel als teuren Egoisten,
    der nur an sich selbst interessiert sei.
    »Das bestreite ich vehement«, sagt Tony
    Martin, der zu dieser Zeit mit Kittel bei
    Katusha Alpecin fuhr. »Marcel ist einer
    der größten Teamplayer, die ich kenne. Er
    hat die Mannschaft immer im Blick, dass
    es ihr gut geht«, sagt er. Und fügt hinzu:
    »Das Team bietet nicht das Umfeld für er-
    folgreichen Sport. Auch ich habe dort mei-
    nen Spaß an dem Sport verloren.« Martin
    fährt mittlerweile für das niederländische
    Team Jumbo-Visma.


Dort ist Kittels ehemaliger Trainer Zee-
man inzwischen sportlicher Leiter. »Mar-
cel ist der bodenständigste und sozialste
Athlet, den ich kenne«, sagt Zeeman.
Im September beendet Kittel die Saison
vorzeitig. »Der ganze Stress hat sich körper -
lichausgewirkt, ich fühlte mich krank, saß
nur noch mit einem Stein im Magen auf
dem Rad«, sagt er.
Sein Vater Matthias sagt: »Ich habe mir
in der Zeit große Sorgen um ihn gemacht.
Er hat den Druck nicht mit uns geteilt, aber
wir haben gemerkt, dass es ihm nicht gut
geht. Er war so betont überlocker.«
Nach einem Urlaub schöpft Kittel neuen
Mut, trainiert im darauffolgenden Winter
allein für sich in Girona, Spanien, ohne je-
den Druck.
Im Februar 2019 gewinnt er die Trofeo
Palma. Doch er fühlt keine Freude über
den Sieg. Nur Erleichterung, sich damit
die Kritiker kurzzeitig vom Hals zu halten.
Im März stürzt er beim Rennen Paris–Niz-
za. »Da habe ich mich erstmals gefragt,
warum ich diesen ganzen Scheiß mache.«
Kittel holt einen DIN-A4-Block hervor.
In diesem Frühjahr hat er angefangen auf-
zuschreiben, was ihm wichtig im Leben
sei. »Was macht mich glücklich?« steht
über 22 Spiegelpunkten.
Das Meer, steht dort, meine eigene, be-
wusst erlebte Freiheit und Unabhängigkeit,
mit Menschen zusammenarbeiten. Aber
auch: positive Reaktionen, wenn ich etwas
erfolgreich erledigt oder gesagt habe, aus
dem Gespräch mit Menschen neue Einsich-
ten über mich oder generell zu gewinnen.
Mitte April sucht er sich einen Sport-
psychologen, wälzt mit ihm seine Gedan-
ken. Fazit: Entweder das Team ändert sich,
oder er muss gehen.
Kurz zuvor war er um den Scheldeprijs
gefahren. Das Eintagesrennen gilt als Klas-
siker für Sprinter. Fünfmal hat Kittel das
Rennen gewonnen, so oft wie kein anderer.
Er landet auf Platz 99. »Da bin ich gefah-
ren wie der letzte Weihnachtsmann«, sagt
er. »Ich war im Kopf komplett blockiert,
jeder Tritt hat wehgetan.«
Nach dem Termin mit dem Psychologen
habe er das Gespräch mit der Teamleitung
gesucht und offenbart, dass er sich Hilfe
geholt habe, weil er inzwischen nicht mal
mehr Lust spüre, sich aufs Rad zu setzen.
Er müsse jetzt extrem hart arbeiten, sei
die Antwort gewesen. »Da habe ich die
Reißleine gezogen«, sagt Kittel.
Er ruft seinen Manager an, sagt, dass er
kündigen will. Am 9. Mai löst er seinen
Vertrag auf. Es gibt eine gemeinsame Presse -
erklärung. Katusha Alpecin äußert sich da-
rin wie folgt: »Mit Trauer haben wir der
Bitte von Marcel, sich vom Team und vom
Rennsport zurückzuziehen, zugestimmt.
Wir verstehen die Situation, in der sich
Marcel befindet, und unterstützen ihn in
dieser schwierigen Zeit uneingeschränkt.«

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Sport

»Von nun an werde ich
mein Glück und
meine Freude über
alles stellen.«
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