Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

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Forensik

»Kein Allheilmittel


für die Ermittlungen«


Michael Tsokos, 52, Lei-
ter der Rechtsmedizin
an der Berliner Charité,
beschäftigt sich in sei-
nem neuen Buch unter
anderem mit dem
umstrittenen und in
Deutschland bisher
nicht zugelassenen
genetischen Phantombild. Auf der Grund-
lage von DNA-Proben vom Tatort ermög-
licht diese Technik Aussagen über Haar-
und Augenfarbe sowie eine grobe Einschät-
zung der geografischen Herkunft eines
Tatverdächtigen.

SPIEGEL:Herr Tsokos, Befürworter sehen
in dem genetischen Phantombild eine
neue Wunderwaffe in der Verbrechens -
aufklärung. Zu Recht?
Tsokos:Ich bin zu sehr Wissenschaftler,
um dieses Thema nicht spannend zu
finden und auch die Chancen darin
zu sehen. Nur verdient das, was ermitt -
lungstechnisch derzeit durch die Aus -
wertung codierender DNA möglich ist,
nicht den Namen Phantombild.
SPIEGEL:Wo liegen die Grenzen?
Tsokos:Basierend auf DNA-Analysen
lassen sich zurzeit schlicht keine konkre-
ten Hinweise auf das Aussehen eines
Tatverdächtigen gewinnen. Möglich sind
lediglich Aussagen zur Augenfarbe mit
einer Trefferquote von etwa 90 Prozent

und zur Haarfarbe mit einer Treffer -
wahrscheinlichkeit von etwa 80 Prozent.
Diese Erkenntnisse werden aber prak-
tisch wertlos, wenn ein Täter Kontaktlin-
sen trägt oder sich die Haare färbt.
SPIEGEL:Möglich sind auch Aussagen zur
geografischen Herkunft, weshalb Kritiker
eine rassistisch gefärbte Fahndung nach
Minderheitenmerkmalen fürchten. Ist die-
se Sorge berechtigt?
Tsokos:Ich würde das in unserer glo ba -
lisierten Welt und unter kriminalistischen
Gesichtspunkten nüchterner betrachten:

Was nützt es Ihnen, wenn Sie herausfin-
den, dass ein Täter dunkle Haare und
dunkle Augen hat? Diese Merkmale tref-
fen doch selbst im Land der Blonden und
Blauäugigen auf sehr viele Menschen zu.
SPIEGEL:Wird der Einsatz von DNA
in der Kriminalistik und Rechtsmedizin
überschätzt?
Tsokos:Sofern es um das genetische
Phantombild geht, eindeutig ja.
Das ist kein neues Allheilmittel für die
Ermittlungsarbeit. Der genetische
Fingerabdruck hingegen, der sich tat -
sächlich einer
bestimmten Person
zuordnen lässt, ist
natürlich durchaus zu
einem erfolgreichen
kriminalistischen
Instrument geworden.
Nur darf man dabei
nicht vergessen, dass
in den entsprechenden
Datenbanken lediglich
die DNA-Codes sol-
cher Personen gespei-
chert sind, die in der
Vergangenheit bereits
durch Straftaten auf -
fällig geworden sind.
Und das ist rund ein
Prozent der Gesamt -
bevölkerung. Bei Erst-
tätern hilft auch der
gene tische Fingerab-
druck nicht weiter.THA

Michael Tsokos:
»Schwimmen Tote immer
oben?«. Droemer;
176 Seiten; 14,99 Euro.

Der Big Mac hat als Symbol der Fast-Food-Kette McDonald’s
ausgedient. Das neue Wahrzeichen des Konzerns ist – kaum zu
glauben – der Strohhalm! 2017 verwirrte McDonald’s seine
Kunden mit einer hakenförmigen Trinkhilfe, mit der die Schoko-
laden- und die Minzschicht eines Shakes gleichzeitig aufgeschlürft
werden konnten. Anschließend muss sich irgendjemand in der
Konzernzentrale in den Gedanken verliebt haben, dass der Stroh-
halm als solcher über das Potenzial verfügt, das Image von
McDonald’s gehörig aufzupolieren. Im Jahr 2018 ersetzte die Bur-
ger-und-Fritten-Firma in sämtlichen ihrer Filialen in Großbri -
tannien und Irland die Plastikstrohhalme durch solche aus Papier.
Scheinbar ein wunderbares Beispiel dafür, wie sehr der Kapi-
talismus in der Lage ist, die Kritik seiner Gegner aufzunehmen
und zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen. War nicht McDonald’s
eben noch jenes gewissenlose Unternehmen, das nicht nur seine
Mitarbeiter auf schamlose Weise ausbeutet, sondern auch die

Umwelt? Fleisch und Gemüse wurden unter alles andere als öko-
logischen Bedingungen produziert; die fertigen Burger landeten
in Verpackungen, die nach purer Chemie aussahen und auch
so rochen. Doch nun die einsichtsvolle Wende, weil der Kunde
es so will. Weil der Kunde es so will? McDonald’s-Besucher
liefen Sturm gegen die neuen Strohhalme aus Papier. Nach nur
dem halben Verzehr eines Milchshakes hätten sie sich bereits
im Getränk aufgelöst, klagten die Konsumenten.
Der Frikadellenkonzern reagierte prompt. Die Papierhalme
wurden verdickt und dadurch stabilisiert – sind nun aber, anders
als die Vorgänger aus Plastik, nicht mehr recycelbar; nach einer
internen Dienstanweisung, die jüngst bekannt wurde, müssen sie
im normalen Hausmüll landen. McDonald’s machte sich so selbst
zur Lachnummer; und ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie
sehr ein Unternehmen sich ins Abseits manövrieren kann, wenn
es aus purem Opportunismus auf Öko macht. Frank Thadeusz

Einwurf

Ausgesaugt


Wie sich der Burgerkonzern McDonald’s auf bizarre Weise ins Ökoabseits manövrierte

A. PEIN / LAIF


SCIENCE PHOTO LIBRARY
DNA-Sequenz
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