Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1

D


ie Klimaschutz-Diskussion der
Politik nährt eine gefährliche Il-
lusion. Eine CO 2 -Steuer, heißt es,
wird zwar einiges teurer machen,
Benzin für Autos und Flugzeuge
vor allem, doch der Staat wird das
Geld nicht behalten, sondern den Men-
schen zurückgeben. Der Bürger soll verste-
hen: Klimaschutz kostet nichts, unterm
Strich. Das aber gilt vielleicht für die „CO 2 -
Bepreisung“, wie die Kanzlerin zu sagen
pflegt, und da auch nur für den statisti-
schen Durchschnittsbürger. Als Nullsum-
menspiel indes ist wirksamer Klimaschutz
nicht zu haben. Wir müssen lernen, anders
zu leben, radikal anders. Und das heißt vor
allem: ohne Auto.
Autofreie Innenstädte gehören auf die
Tagesordnung. Und das beileibe nicht nur
aus Gründen des Klimaschutzes vor CO 2
und Feinstaub. Es geht um die humane
Wiederbelebung der Citys, um ihre Rück-
eroberung für den Menschen. Über den
kulturellen Wandel, die kreative Nutzung
der gewonnenen Räume lohnt es sich
nachzudenken – und fruchtbar zu streiten.
Verstopfung und Verpestung sind unhalt-
bar geworden. Der brutale Verdrängungs-
kampf der Verkehrsmittel – Auto gegen
Fahrrad gegen Fußgänger, E-Bike gegen
alle – istesauch.Das Auto ist zu viel.

Das wirft die Frage auf, wie das Konzept
funktionieren soll. Bewohner der autofrei-
en Zone mit Auto erhielten die Erlaubnis,
hinaus- und hereinzufahren. Aber nicht
innerhalb der Zone. Gänzlich autofrei kann
es nicht abgehen. Lieferwagen, Taxis, Ret-
tungs- und Hilfsfahrzeuge müssen weiter
zugelassen sein. Aber nur noch elektrisch.
Pendler von draußen steigen am Stadtrand
auf Bahnen, Busse oder Räder um.
Generell sollen die Innenstädte den Fuß-
gängern gehören, den Radfahrern, den E-
Bikern – und natürlich den öffentlichen
Verkehrsmitteln, die ausgebaut und eng
getaktet werden müssen. Das geht nicht?
Es geht. Es muss. Und es wird. Selbst wenn
zwei, drei schwere Kästen mit Getränken
zu transportieren sind. Fahrräder mit La-
defläche sind längst üblich. Und wenn es
in Strömen regnet, lässt man die Getränke
eben nach Hause liefern.
Der Klimaschutz allein reicht als Be-
gründung freilich kaum aus, dafür ist der
Effekt auf die Gesamtbilanz zu marginal.
Auch wenn es keine Kleinigkeit ist, dass im
vergangenen Jahr 57 deutsche Städte den
europäischen Grenzwert für Stickstoff-
dioxid überschritten haben. Die EU hat
deshalb Deutschland und fünf andere
Staaten vor dem Europäischen Gerichts-
hof verklagt. Es muss etwas passieren.
Auch weil es buchstäblich um unser
Leben geht. Im vergangenen Jahr sind 445
Radfahrer im deutschen Verkehrsgetüm-
mel getötet worden, unter ihnen 21 Kinder


  • die höchste Zahl seit zehn Jahren und ein
    sprunghafter Anstieg von den 382 Toten des
    Jahres 2017. Wer sich durch das immer
    gefährlichere Dickicht der Städte bewegt,
    wütende Zweikämpfe und halsbrecherische
    Manöver beobachtet, der begreift um-
    standslos: So darf es nicht weitergehen mit
    dem Verkehrs-Darwinismus, dem brutalen
    Kleinkrieg jeder gegen jeden.
    Jüngere verzichten ohnehin immer ge-
    lassener aufs Auto. Anfang des Jahrzehnts
    besaßen noch 86 Prozent der 18- bis 24-Jäh-
    rigen einen Führerschein, heute nur noch



  1. Die Autokäufer waren 1995 im Schnitt
    acht Jahre jünger als heute: Der Neuwa-
    genkäufer ist aktuell 53, der Gebrauchtwa-
    genkäufer 45. In der Innenstadt fahren die
    Jungen Rad oder Roller, und zwar in so
    dichten Kolonnen und Schwärmen, dass
    Autos kaum noch über Tempo 30 hinaus-
    kommen. Es ist widersinnig.
    Im September soll die Friedrichstraße in
    Berlin testweise ein paar Tage für Autos
    gesperrt werden. Sehr vorsichtig. Nächstes
    Jahr will man mehr wagen. Nur Mut! 2


Zweierlei muss klargestellt werden. Das
gilt nur für die Innenstädte. „Angesichts
der vielen Alternativen wüsste ich ehrlich
gesagt nicht, wozu man das Auto in der
Stadt noch braucht“, sagt Simone Ran-
gosch, Chefin des Züricher Tiefbauamtes.
Für die Pendler, für das Land gilt das nicht.
Zum Zweiten: Auch ich wäre betroffen.
Ich wohne in Berlin-Mitte und habe ein
Auto mit modernem Diesel. In der Innen-
stadt würde ich darauf verzichten.

ABSCHIEDVOMAUTO


Die Innenstädte sollten Fußgängern, Rad- und


Rollerfahrern gehören – nicht allein wegen des Klima-


schutzes. Plädoyer für eine radikale Wende


16 15.8.

KOLUMNE


JÖRGES


Hans-Ulrich Jörges
Der stern-Kolumnist schreibt
jede Woche an dieser Stelle

ZWISCHENRUF AUS BERLIN


ILLUSTRATION: JAN STÖWE/STERN
Free download pdf