ILLUSTRATION:
KATRIN
FUNCKE/ART
ACT/STERN
Diese Woche:
Professor Dr. Bruno Mégarbane, 52,
Leiter der Abteilung für Reanimation
und Toxikologie, Hôpital Lariboisière
in Paris, Frankreich
AUFGEZEICHNET VON ASTRID VICIANO;
viele runde Dinge zu erkennen, die in ihrem
Darm steckten. Das mussten Päckchen mit
Drogen sein! Ich bat die Kollegen aus der
Chirurgie, die Patientin sofort als Notfall
zu operieren. Wir vermuteten, dass man-
che der kleinen Pakete im Darm gerissen
waren und ihr Inhalt ausgetreten war. Nach
einem Schnitt in die Bauchdecke schoben
die Chirurgen Stück für Stück innerhalb
der Darmschlingen die Päckchen bis zum
Anus und holten so alle heraus. Jeder Beu-
tel enthielt etwa 20 Gramm eines Pulvers,
fünfdavonwarengerissen.
E
igentlich wollte die junge Frau in
Paris nur umsteigen. Die 34-Jährige
kam aus Brasilien und wartete auf
ihren Anschlussflug nach Spanien.
Schon auf dem Flug über den Atlan-
tik hatte sie über Bauchschmerzen
geklagt, berichtete das Flugpersonal. Nach
der Landung wurde die Frau in der An-
kunftshalle plötzlich sehr unruhig und
erlitt schwere Krampfanfälle. Die her-
beieilenden Sanitäter stellten fest, dass der
Blutdruck stark erhöht war, der Puls raste,
auch schwitzte sie sehr. Kurz darauferlitt
die Frau einen Herzstillstand.
Die Sanitäter konnten sie
glücklicherweise wiederbele-
ben und ließen sie gleich als
Notfall in unsere Klinik brin-
gen. Dort sah ich die Patientin
zum ersten Mal.
Sie lag seit der Wiederbele-
bung im Koma. Ihre Statur war
normal. Warum hatte sie einen
Herzstillstand erlitten? Ein
Verschluss der Herzkranzge-
fäße kam zwar infrage, wäre
aber bei einem vergleichs-
weise jungen Menschen sehr
ungewöhnlich. Auch eine Hirn-
blutung war als Ursache mög-
lich, aber dafür gab es keine
anderen Anzeichen. Um mir
ein besseres Bild zu machen,
ließ ich ein EKG erstellen: Es
misst die elektrischen Ströme
im Herzen. Die Aufzeichnung
machte mich stutzig: Die EKG-
Kurve zeigte zum einen typi-
sche Veränderungen, die bei
einem Herzinfarkt zu sehen
sind. Zudem war ein bestimm-
ter Abschnitt der Herzkurve
verbreitert, was für eine Vergif-
tung sprach. Hatte die Patien-
tin etwas eingenommen?
Ich stellte fest, dass die Pu-
pillen stark geweitet waren.
Dann ließ ich den Urin unter-
suchen – tatsächlich: darin
fanden sich Spuren von Kokain. Hatte die
Frau gekokst? Ein Test ergab außerdem,
dass sie schwanger war, der Embryo im
Bauch war erst wenige Wochen alt.
Der Zustand der Patientin verschlech-
terte sich: Die Herzfrequenz stieg, der Blut-
druck fiel weiter ab. Ich ließ ein Röntgen-
bild des Bauches machen: Darauf waren
50 Stück hatte die Frau insgesamt ge-
schluckt, um sie über den Atlantik zu trans-
portieren. Darin befand sich Kokain. Viele
Lateinamerikaner werden von kriminellen
Organisationen dafür bezahlt, Drogen nach
Europa zu schmuggeln. Das lebensgefähr-
liche Problem in diesem Fall: Die fünf
gerissenen Päckchen hatten zu einer Ko-
kainvergiftung geführt, mit Auswirkun-
gen am Herzen. Normalerweise packen die
Schmuggler die verbotene Ware so sorg-
fältig in die Latexhüllen ein, dass kein
Paketreißt. Manchmal jedoch bleibt einer
der Beutel zu lange im Magen
hängen. Die Magensäure greift
die Hülle an – und die Droge
gelangt in den Körper.
Ich habe schon viele solcher
Fälle gesehen, im Durchschnitt
schmuggeln in jedem Flug aus
Lateinamerika Menschen Dro-
gen nach Europa. Die meisten
werden nicht entdeckt, manche
aber verhalten sich im Flugzeug
auffällig: Sie essen oder trinken
kaum etwas, aus Angst, auf
die Toilette zu müssen und
die wertvolle Fracht auf natür-
lichem Wege zu verlieren. Auch
sind diese Fluggäste meist sehr
still, nervös und schwitzen. Oft
meldet das Flugpersonal ver-
dächtige Reisende schon vor
der Landung, damit sie beim
Aussteigen auf Drogen unter-
sucht werden.
Als unsere Patientin aus dem
Koma erwachte, war sie sehr
schweigsam, sagte nichts zu
ihren Erlebnissen und stellte
keine Fragen. Sie verließ un-
sere Klinik nach vier Tagen –
als freier Mensch. Da wir
Ärzte der Schweigepflicht un-
terliegen, dürfen wir solche
Patienten nicht der Polizei
melden. Die Kokainpäckchen
wurden vernichtet. Wie wir
erfuhren, brachte die Frau
ein paar Monate später ein gesundes
Kind zur Welt. 2
Nach einem Flug hat eine Frau Krampfanfälle,
dann bleibt ihr Herz stehen. Sie wird gerade noch
gerettet. Ein Arzt entdeckt die Ursache: im Bauch
Fragiles Innenleben
62 15.8.2019
DIE DIAGNOSE
GESUNDHEIT
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