Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1

W


ie ist die Situation
nach dem letzten Wo-
chenende in Hong-
kong?
In den vergangenen
zwei Monaten hat die

Polizei mehr als 2000 Tränengas-


granaten abgefeuert und über 600


Menschen verhaftet. Sie zielt dabei


nicht nur auf Demonstranten, son-


dern auch auf normale Bürger.


Selbst in ein Einkaufszentrum wur-


de Tränengas geschossen – auf Leu-


te, die mit den Protesten nichts


zu tun hatten. Wir erleben gerade


extreme Menschenrechtsverletzun-


gen; deswegen sind dies die wich-


tigsten Proteste unseres Lebens.


Alles begann mit dem Ausliefe-


rungsgesetz,dasesermöglicht


hätte,StraftäterausHongkong


nachFestlandchinaauszuliefern.


DerEntwurfistmittlerweileauf


Eisgelegt.Jetztscheintesgegen


denEinflussPekingsimAllgemei-


nenzugehen.


DiesesNarrativstimmtnicht.Wir


forderndenRücktrittvonCarrie


Lam,undunserZielsindfreieWah-


len.MehralszweiMillionenHong-


kongerwollendas.


Pekingscheintdaraufzusetzen,


dassdieBewegungsichmitder


Zeitverläuft–besondersabSep-


tember,wenndieUniversitäten


wiederöffnen.SehenSiedasauch


so?


Nein,unserSommerderUnzufrie-


denheitwirdanhalten.


DieTaktikderDemonstrantenhat


sichseit 2014 verändert–sower-


denetwaGasmaskenundWasser


vonhintenandievorderenReihen


durchgereicht. Zudem war es


frühereineStrategiePekings,die


Anführer zuidentifizierenund


festzunehmen.BeidieserBewe-


gungscheintdasnichtzufunktio-


nieren.


Dasistrichtig.UnsereProtestesind


spontanunddezentral,esgibtkei-


nenbestimmtenFührer.Dasmacht


esvielschwierigerfürdiePolizei,


unsaufzuhalten.Alldasaberliegt


daran,dassdieGesellschaftHong-


kongshinterunssteht.


SindvorallemdiejungenLeute


wütendaufdiePolitik?Istdies


aucheinGenerationenkonflikt?


Bei unseren Märschen nehmen


Menschenzwischen 13 und 65 teil.


Mankannalsonichtsagen,eshan-


delesichnurum„Millenials“–auch


wenndievielleichtamleidenschaft-


lichstendabeisind.Undumdiewirt-
schaftliche Situation Hongkongs
standesschonvordenProtesten
nichtmehrsogut.DerHandelskrieg
zwischendenUSAundChinatrifft
unshart.Daszeigtdochnur:DieAb-
hängigkeitvom Festlandschadet
unsauchökonomisch.Daswerden
am Ende auch die Tycoons und
Unternehmer erkennen.Aber all
diessindnichtdieUrsachenderPro-
teste–es gingumdasAusliefe-
rungsgesetz.

Wie gefährlich ist eine Eskalation
der Proteste?
Es ist die Polizei, die lebensgefähr-
liche Waffen einsetzt, nicht wir. Vor
Kurzem verlor ein junger Lehrer ein
Auge, als er von Gummigeschossen
getroffen wurde.
Vergleiche zwischen der Lage in
Hongkong und den Tiananmen-
Protesten 1989 drängen sich auf.
Befürchten Sie einen Einsatz der
Volksbefreiungsarmee?
Die Frage zeigt doch, dass niemand
auf der Welt Peking vertraut. Wir
sprechen hier über ein autoritäres
System, das prinzipiell zu allem fä-
hig ist. Doch nochmals: Nicht wir
sind es, die die Lage eskalieren – das
liegt an Xi Jinping und den Führern
der Kommunistischen Partei. Egal,
ob Peking die Armee einsetzt oder
nicht – unsere friedlichen Proteste
gehen weiter.
Wie könnte eine mögliche Lösung
aussehen? Gibt es Raum für einen
Kompromiss?
Die einzige Lösung ist es, uns unse-
re Rechte zu geben. Wir reden hier
über grundlegende Menschenrech-
te, die Menschen in Europa seit Jahr-
zehnten genießen. Hongkong ist wie
Ost-Berlin im 20. Jahrhundert. Wir
leben in einem autoritären System.
Es ist nicht an uns, einen Kompro-
miss vorzuschlagen.
Worum geht es Peking Ihrer Mei-
nung nach?
Der alte Slogan „Ein Land – zwei
Systeme“ ist ein Witz. Wir sprechen
heute bestenfalls noch von „Ein
Land – eineinhalb Systeme“, und
wenn es so weitergeht, sprechen wir
bald von einem System.
Peking vermutet hinter den Pro-
testen „dunkle Hände“. Erhalten
Sie Unterstützung aus dem Aus-
land?
Menschen aus der ganzen Welt
unterstützen uns. Aus mehr als 30
Ländern haben wir Solidaritätsbe-
kundungen erhalten. Großbritan-
nien hat den Export von Gummige-
schossen und Tränengas nach
Hongkong unterbunden. All das
hilft. Wir aber protestieren unab-
hängig davon, wie sich das Ausland
verhält.
Seit den Demonstrationen 2014,
die Sie mitangeführt haben, waren
Sie mehrmals im Gefängnis. Wie
gehen Sie damit um?
Drohungen können mich nicht be-
siegen, sie machen mich stärker. Ich
führe den Kampf fort. 2
FOTOS: KIRAN RIDLEY/GETTY IMAGES; PILIPEY/REX/SHUTTERSTOCK

Wong,22,führte
schonals17-Jäh-
rigerdie„Regen-
schirm-Bewe-
gung“mitan,
diefreieWahlen
imStadtstaat
forderte. 2017
wurdeer
verhaftet(u.),
abgeurteiltund
erstkürzlichaus
demGefängnis
entlassen

Der Aktivist Joshua Wong über


die Ziele der Demonstranten


und ihre neue Taktik


„ ES IST NICHT AN UNS,


EINEN KOMPROMISS


VORZUSCHLAGEN“


68 15.8.2019

Free download pdf