Hier endlich will sie das Rätsel lüf-
ten. Madeleine Fullard ist nun selbst
in das Grab hinabgestiegen. Vorsich-
tig säubert sie das Skelett, das dort
unten in zwei Meter Tiefe zum
Vorschein gekommen ist. Schiebt
vorsichtig ein paar Steine zur Seite,
legt mit einer Schaufel die Schulter
frei, befreit gleich einer Archäologin
mit einem Pinsel die Oberschenkel-
knochen von der Erde.
Es ist ein Mann, so viel ist bald klar,
der in diesem Armengrab begraben
wurde, und er ist in ganz gutem
Zustand. Hell heben sich die Kno-
chen von der ockerfarbenen Erde ab,
selbst eine Kette um den Hals hat
sich erhalten, daran ein verrosteter
Schlüssel, wofür auch immer.
Oben haben sich Fullards Mit-
arbeiter am Rand des Grabs versam-
melt. Die Forensiker, die aus Kno-
chen Schicksale lesen können; die
ehemaligen Kämpfer des African
National Congress (ANC), deren Ka-
meraden in Gräbern wie diesen lie-
gen – die ganze Truppe des „Missing
Persons Task Team“, die unter der
Führung von Fullard die Friedhöfe
und Felder Südafrikas durchgraben
und Opfer des Apartheid-Staats su-
H
chen, um dann die Gebeine den
Angehörigen zu übergeben. Fullard
und ihr Team arbeiten die Vergan-
genheit auf, ganz handfest, mit Ha-
cke und Spaten.
Auf diesem Friedhof von Winter-
veld, eine halbe Stunde nördlich von
Südafrikas Hauptstadt Pretoria, ist
eine Ordnung kaum auszumachen.
Keine Reihen, keine Nummern.
Kniehoch wächst dürres Gras zwi-
schen den Gräbern, Bäume und
Sträucher wuchern wild. Auf man-
chen Gräbern liegen Teller und Tas-
sen, die den Verstorbenen wichtig
waren. Andere sind nur längliche
Hügel ohne Namen oder Stein. Win-
terveld liegt ein paar Kilometer ent-
fernt von der nächsten Siedlung, ein
Ort wie aus einem Krimi. Man hört
Zikaden, Vögel und das Rauschen
des Windes – sonst herrscht Stille.
Doch genau in dieser verlassenen
Ecke hat Madeleine Fullard einige
ihrer wichtigsten Funde gemacht.
Hier hat sie etwa die Überreste von
Harold Sefolo gefunden, einem be-
kannten Freiheitskämpfer. Sefolo
war mit zwei anderen Aktivisten
1987 von der Sicherheitspolizei ent-
führt worden. Die Polizisten folter-
ten die drei mit Elektroschocks.
Dann musste Sefolo zuschauen, wie
die Peiniger zunächst seine Kame-
raden töteten. Als er selbst an der
Reihe war, hatte er einen letzten
Wunsch. Er sang „Nkosi Sikelel’ iAf-
rica“, die Freiheitshymne des ANC –
dann brachte man auch an seinen
Füßen und Händen die Elektroden
an und legte den Schalter um, bis in
seinem Körper kein Leben mehr war.
Die drei Leichen sprengten die
Polizisten mit einer Mine in die Luft.
Eine übliche Methode. Als ein Bauer
auf die zerrissenen Körper stieß, war
keine Identifizierung mehr möglich.
Die Reste von Sefolo landeten
schließlich in Winterveld – wo sie
Madeleine Fullard aufspürte. Mehr
als drei Jahrzehnte nach dem Ver-
schwinden konnten die Familien
endlich Abschied nehmen.
Zwei weitere Männer?
Jetzt, an diesem heißen Morgen,
gräbt Fullard nur wenige Meter
entfernt von der Stelle, wo sie einst
Sefolo gefunden hat. Sie hat inzwi-
schen das Skelett freigelegt,doch
diese Knochen sind es nicht, diesie
sucht – sondern was hier noch
Recherche mit Hacke, Spaten und Eimer: die Forensikerin bei ihrer Arbeit auf
dem Winterveld-Friedhof nahe Pretoria
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