Marc Goergen (l.)
hat sich schon mehrfach
mit der schwierigen
Geschichte Südafrikas
auseinandergesetzt, Fotograf James
Oatway verfolgt die Arbeit von
Madeleine Fullard seit längerer Zeit
1990
Mandela kommt
frei
1994
Der ANC gewinnt
die ersten freien
Wahlen, Mandela
wird Präsident
1996–1998
Erzbischof Tutu
leitet die Wahr-
heitskommission;
Opfer und Täter
treffen aufein-
ander. Der
Abschlussbericht
nennt Apartheid
ein Verbrechen
gegen die
Menschlichkeit.
Auch der ANC sei
verantwortlich
für Men-
schenrechtsver-
letzungen
Dafür ist sie nun auf dem Weg in
das Provinznest Cofimvaba, im Kof-
ferraum ganz spezielles Gepäck –
neun Pappkartons mit Erde und
Knochen. Die Überreste von neun
Gehängten. Sie sollen feierlich den
Angehörigen übergeben werden.
Cofimvaba ist ein vergessener Fle-
cken in der Provinz Eastern Cape,
kaum mehr als ein paar Billigsuper-
märkte und Läden mit Farmzube-
hör. So spektakulär die Landschaft
mit den weiten Tälern, den Hügeln,
den Wasserfällen und Weiden, so
verarmt ist die Region. Das war
schon damals so – und trieb die
Menschen in den Widerstand. Von
hier kamen besonders viele Anti-
Apartheid-Kämpfer, auch Nelson
Mandela wurde nur etwa eine Stun-
de entfernt geboren.
Vor der feierlichen Übergabe
formt Fullard in den Räumen eines
Bestatters das wenige, was Verfall
und Verwesung übrig gelassen ha-
ben, zu einer menschlichen Silhou-
ette. Sorgsam kippt sie aus Papier-
tüten die Knochenreste in einen
Sarg, dann beginnt das Puzzle. Einen
Rest des Oberschenkels gibt es fast
immer – von den Rippen hingegen
ist meist nichts mehr zu sehen.
„Manchmal muss man das auch
nach Gefühl ordnen“, sagt sie.
Das Schicksal der Alten
Am Ende aber stapeln sich in der en-
gen Kammer neun Särge, und als am
nächsten Tag der Gottesdienst zur
Übergabe beginnt, versteht man, wel-
che Bedeutung selbst diese Über-
bleibsel für die Angehörigen und
Freunde haben. Manche sind nachts
um zwei Uhr aufgestanden, um sich
auf die beschwerliche Reise hierher
zu machen. Teenager sind gekommen,
die ihren Großvater nur als Fahn-
dungsbild kennen und das jetzt auf
ihrem T-Shirt tragen; befreundete
Aktivisten, die zehn Jahre auf Robben
Island gesessen haben, nur ein paar
Blocks von Mandela entfernt. Und
auch ein paar ziemlich alte Frauen –
die Ehefrauen der Hingerichteten.
Nosilence May etwa, sie ist über
80, eine etwas gebrechliche Dame
am Stock, die nicht mehr gut hört.
Ihr Mann Zenzile war 27, als er ge-
hängt wurde, sie hatten fünf Kinder.
Am Tag vor der Hinrichtung schrieb
er ihr, dass er sterben werde. Das war
das Letzte, was sie von ihm mitbe-
kam. „Um nach Pretoria zu fahren,
hatten wir kein Geld“, erzählt sie. Ge-
heiratet hat sie danach nicht wieder.
Jetzt beobachtet May, wie die
Särge unter Gesängen in die Kirche
getragen werden, langsam, einer
nach dem anderen. Als die Prozes-
sion die alte Frau passiert, wendet
sie den Kopf dorthin, ihr Gesicht ist
im Gegenlicht nicht genau zu erken-
nen; was mag in ihr vorgehen nach
all den Jahrzehnten?
Madeleine Fullard steht ein wenig
abseits am Eingang. Sie ist die ein-
zige Weiße hier. Sie hat die Arme vor
dem Bauch verschränkt, die Son-
nenbrille baumelt vor der Brust.
Fullard wirkt fast wie ein schüchter-
ner Zaungast. Das hier ist jetzt nicht
mehr ihre Veranstaltung. Ihre Arbeit
ist getan. Und die nächste wartet be-
reits, irgendwo auf einem Friedhof
in den Weiten Südafrikas. 2
Feierliche Zeremonie nach der Übergabe gefundener Knochenreste an die Angehörigen.
Hier trauert eine Frau um ihren vor Jahrzehnten gehängten Bruder
15.8.2019 89