Living at Home - September 2019

(Elliott) #1
chitekt Bart van der Leck fügte fünf Jahre später die
Knalltöne hinzu. Dass der Stuhl mit seiner strengen Geo-
metrie und den drei Grundfarben fast einem Gemälde von
Piet Mondrian ähnelte, war dabei kein Zufall: Rietveld,

van der Leck und auch Mondrian waren Vertreter der hol-
ländischen „De Stijl“-Bewegung, die Kunst, Design und
Architektur miteinander verflechten wollte. Der Rot-Blaue
Stuhl war also Sitzmöbel und Skulptur zugleich.
Rietveld wollte, wie erwähnt, dass
sich jeder sein hölzernes Kunst-
Stück nachbauen konnte, doch die-
ses soziale Ansinnen muss man als
klar gescheitert betrachten: Seit 1973
fertigt die italienische Möbelmanufak-
tur Cassina den Stuhl, perfekter freilich,
als man es im Do-it-yourself-
Verfahren jemals hinkriegen würde.
Ein paar Originale von damals lan-
deten derweil im Museum. Ein Ex-
emplar hatte sich gerade die Delft
University of Technology ausgeliehen,
als dort 2008 ein Feuer ausbrach.
Alles verbrannte. Die Feuerwehr-
männer konnten nur ein Teil retten:
den Rot-Blauen Stuhl.

JUBILÄUMSFEIERN haben schon mal etwas Ermüden-
des; übersättigt und durch ein gewisses Völlegefühl ge-
plagt sinkt man hernach in die Polster. Der Geburtstag
der Bauhaus-Bewegung zeitigt bei mir an sich auch ähn-
liche Folgen, aber ein stilvolles Dessert aus dem Festmenü
kann ich noch vertragen – den Rot-Blauen Stuhl. Die etwas
schnöde Bezeichnung ist übrigens nicht meiner Einfalls-
losigkeit geschuldet, sondern das Stück heißt wirklich so.
Sein Schöpfer Gerrit Rietveld liebte es schlicht und ergrei-
fend, 17 Holzstücke und ein paar Holzdübel, mehr ist
auch gar nicht dran an der Möbelikone von 1918. Jeder
Bürger sollte den Stuhl bauen können, und so gab der
gelernte Schreiner den Konstruktionsplan freigiebig an
Hobbytischler weiter. Heute findet sich alles, was man da-
zu wissen muss im Internet, in manchen Kunstkursen in
der Schule ist der Nachbau sogar Klassenziel.
Rietveld höchstpersönlich machte es Kopisten also
recht bequem, während er seinem Stuhl selbst Bequem-
lichkeit so gar nicht zustand. Wann immer jemand
jammerte, auf dem Rot-Blauen Stuhl könne man nicht
ordentlich lümmeln, parierte der Holländer gereizt, wer
schlafen wolle, solle sich gefälligst ein Bett
suchen. Sitzen bedeutete für ihn pure
Aktivität, eine Art Weckruf für den
Geist. Weshalb er auf die Rückenteile der ers-
ten Versionen Christian Morgensterns Poem
vom „Ästheten“ klebte, in dem
säuberlich zwischen Sitzfleisch
und Sitzgeist unterschieden
wird. Jene Exemplare waren
übrigens noch aus schierem
Buchenholz gefertigt, erst Ar-

Wo kommst du d enn her,


Schätzchen?


Manche Dinge begleiten uns durch unser Leben, und wir fragen uns:


Wer hat dich eigentlich erfunden? Unsere Kolumnistin Silke Pfersdorf


hat die Antwort. Diesmal: der Rot-Blaue Stuhl von Gerrit Rietveld


Sitzkomfort sieht anders


aus, aber: Dieser


Stuhl ist ein Statement


SILKE PFERSDORF
Autorin

Illustration ANNE LÜCK Te x t SILKE PFERSDORF

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KOLUMNE

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