Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

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gewinn natürlich einen neuen Weltmeister gab: Im Herzen
bin ich Weltmeister geblieben. Dieses Gefühl vergeht nicht.
Im kommenden Jahr werden Sie 60.


Ich weiß. Am liebsten würde ich mich vor diesem Datum
drücken.

Sie haben in letzter Zeit mehrfach übers Aufhören ge-
sprochen. Mal hieß es, Sie wollten bald Schluss machen


mit dem Fußballgeschäft, dann wieder: Nein, Sie machen
weiter. Was gilt denn nun?


In einem Interview habe ich mal erklärt, dass Aufhören
für mich kein Tabuthema ist. Dabei ging es aber um kei­
nen konkreten Zeitpunkt. Wissen Sie, ich bin ja schon so
lange dabei. Aber für mich gilt, was für viele Menschen in
unserer Gesellschaft gilt: Wir fühlen uns doch alle zehn
Jahre jünger, als wir sind. Früher war man mit 60 alt.
Mein Vater, der als Dreher gearbeitet hatte und als junger
Kerl im Krieg war, ist mit 60 wirklich ein alter Mann
gewesen. Heute ist das bei Menschen dieses Alters nicht
mehr unbedingt so.

Sie wollen sagen: Sie werden noch ewig weitermachen?
Ich werde noch ein paar Jährchen machen, es aber nicht in
alle Ewigkeit ausdehnen.
Beunruhigt Sie die Vorstellung, aufzuhören?


Nein, gar nicht. Ich bin bei diesen Dingen emotional un­
belastet. Egal, was ich im Fußball erlebt habe: Ich habe
die Dinge so akzeptiert, wie sie kamen, ob positiv oder
negativ. Hin und wieder musste ich dann eben auch einen
gewissen Druck aushalten.
Schon als Spieler?


Als Spieler hat man eigentlich keinen großen Druck.
Wie bitte? Ein Spieler steht nicht unter Druck?


Welchen Druck soll ein Spieler schon haben? Okay, ein
Torwart etwas mehr als ein Feldspieler. Wenn der einen
Fehler macht, dann kann er das ganze Spiel kosten. Bei
einem Elfmeterschießen vielleicht, in einem entscheiden­
den Spiel: Dann ja, dann spürt auch ein Feldspieler Druck.
Aber im Normalfall ist das überschaubar. Er ist doch nur
einer von elf.
Auch als Torjäger hat man keinen Druck?


Natürlich hat man Druck, wenn man dreimal hin ter ein­
an der nicht getroffen hat. Aber das ist doch alles ziemlich
harmlos.
Harmlos? Ein Fußballer kann einen katastrophalen Fehler


machen und damit die Niederlage seiner Mannschaft ein-
leiten. In den Augen der Fans ist dieser Spieler dann die


größte Niete aller Zeiten.
Alles richtig. Aber egal, ob man Sportdirektor im Verein
ist, Trainer oder Geschäftsführer – der Druck ist ungleich
stärker. Das habe ich selbst erlebt. Ob du Erfolg hast oder
nicht, wird immer dir persönlich zugerechnet. Du kannst
als Manager oder Trainer hundert richtige Entscheidungen
getroffen haben, und dann endet ein wichtiges Spiel uner­
wartet mit einer 1 : 2 ­Niederlage – dann bist du mitschuldig.


Der ehemalige Spieler Per Mertesacker hat davon berich-
tet, er habe vor Spielbeginn so sehr unter Druck gestanden,


dass er einen starken Würgereiz spürte, so als müsse er sich
gleich übergeben.
Per Mertesacker war bislang noch nicht in einer führen­
den Position als Funktionär oder Trainer. Dort, wo sich
wirklich Verantwortung zuspitzt, im Management, würde
er merken, was Druck bedeutet. Dort wird man nämlich
am nackten Ergebnis gemessen. Und diese Verantwortung
kann man sich nicht zu elft teilen.
Und frühere Verdienste zählen dann nichts mehr?
Am Anfang schon, aber nicht auf Dauer.
Sie haben mal gesagt, als Fußballer lebe man in einer
Traumwelt.
Ja, das ist eine Traumwelt, ein Traumberuf. Es ist nicht
die Realität, es ist ein bisschen wie im Kino. Wenn der
Film losgeht, dann ist das genau der Moment, in dem
deine Karriere als Fußballer beginnt. Irgendwann ist dieser
schöne Film aber vorbei, und deine Karriere ist es auch.
Du hast die ganze Zeit in einer Scheinwelt gelebt. Die
Leute gehen doch ins Kino, um einmal ihren Alltag zu
vergessen. Als Profifußballer hast du keinen Alltag. Des­
halb sage ich es auch allen unseren Spielern immer wieder:
Ihr lebt in einer idealen Welt, ihr dürft euer Hobby zum
Beruf machen, und ihr kriegt auch noch Geld dafür. Der
liebe Gott hat es wirklich gut mit euch gemeint. Spielt so
lange Fußball, wie es geht. Denn es gibt nichts Besseres.
Alles danach, ob als Trainer oder Manager, ist auch schön.
Aber am schönsten ist die Zeit als Fußballer gewesen, auch
bei mir. Ich habe mit 36 aufgehört.
Stimmt es, dass Sie früher bis zur völligen Erschöpfung
trainiert haben?
Ich habe ständig trainiert, nicht nur mit der Mannschaft
auf dem Platz. Auch auf der Straße, mit Freunden, allein.
Meinen linken Fuß vor allem. Jeder hat einen starken Fuß
und einen schwachen, nur Andi Brehme nicht. Das ist
weltweit der einzige Spieler, der noch heute nicht weiß,
ob er nun Links­ oder Rechtsfuß ist. Während der WM
1990 schoss er im Finale gegen Argentinien den wich­
tigsten Elfmeter, den jemals ein deutscher Nationalspieler
geschossen hat, sieben Minuten vor dem Spiel ende mit
rechts ins Tor. Vier Jahre zuvor, im WM­Viertelfinale ge­
gen Mexiko, hatte er im Elfmeterschießen den linken Fuß
benutzt – und getroffen.
Und Ihr schwacher Fuß war immer der linke.
Ja. Aber ich habe ihn permanent trainiert, schon als Junge.
Zu Hause vor dem Garagentor, stundenlang, immer die­
selbe Übung mit dem Fuß, immer dasselbe Geräusch. Die
Nachbarn standen kurz vor dem Nervenzusammenbruch.
Beim Kopfballspiel war es ähnlich. Ich bin ja kein Riese,
nur 1,80 Meter groß. Ich habe hart trainiert und später
unwahrscheinlich viele Kopfballtore gemacht. Man kann
viele Dinge trainieren.
Wer ist für Sie der beste Fußballer aller Zeiten?
Lionel Messi. Der spielt wie ein Mensch von einem anderen
Planeten. Unvergleichlich. Auch Cristiano Ronaldo ist su­
per, er ist eigentlich noch torgefährlicher, aber Messi ist halt
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