Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

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Juli und ich haben grundsätzlich divergierende Ansichten zum
Thema Essen. Meine Frau und ich verlangen nicht viel. Aber schon,
dass man sich »ordentlich« an den Tisch setzt und »ordentlich«
isst. Juli sagt: »Ich sitze doch ordentlich!«, und: »Ich esse doch or­
dentlich!« Ich habe oft über das Konzept »ordentlich« nachdenken
müssen. Es bedeutet grundsätzlich »einer Ordnung folgend«. Das
kann vieles bedeuten. Ich persönlich bin zufrieden, wenn Dinge
aufgeräumt scheinen. Meine Frau hingegen ist eine Anhängerin
einer tieferen Ordnung. Während ich es okay finde, wenn Sachen
in einer Schublade liegen und nicht auf dem Boden, möchte meine
Frau, dass sie auch in der Schublade geordnet sind. Ordnung ist
also ein subjektives Konzept.
Meine Frau und ich sind uns allerdings weitgehend einig, was Ord­
nung am Tisch bedeutet. Nämlich gerade sitzen. Also mit dem
Oberkörper parallel zur Tischkante. Für Juli ist das nicht so wichtig,
sie sitzt gerne schräg am Tisch, so als lehne sie an einem Kneipen­
tresen. In dieser Haltung ist es aber nicht so einfach, eine Gabel
zum Mund zu führen, weshalb leicht etwas von der Gabel herunter­
rutscht und auf der Hose oder auf dem Fußboden landet. Was mit­
unter auch dadurch begünstigt wird, dass Juli die Gabel konsequent
falsch herum hält. Ich ermahne Juli dann und sage: »Wenn du nicht
ordentlich isst, kannst du nicht mit uns am Tisch sitzen, sondern
musst woanders essen.« – »Ich esse doch ordentlich«, sagt Juli und
lässt eine mit Tomatensoße verschmierte Nudel auf die Tischkante
gleiten, wo sie dann baumelt. In der Werbung reagieren Eltern im­
mer gütig lächelnd, wenn Kinder schmieren, und freuen sich, dass
sie endlich ihr supersoftes Küchenpapier ausprobieren können. Ich
freue mich nicht, deswegen sieht man mich auch nicht in der Wer­
bung. Ich mahne laut: »Du isst jetzt SOFORT ordentlich, sonst
trag ich dich vom Tisch weg!« – »Ich ess doch ordentlich!«, sagt Juli
und trinkt den Apfelsaft so, dass er ihr am Kinn herunterrinnt. Nun
muss ich zur Tat schreiten. Ich wollte doch nur etwas essen, und
jetzt muss ich mein Kind vom Abendbrottisch entfernen wie ein
Türsteher den Problemgast von der Party. Juli protestiert laut. Ich
trage sie in ihr Zimmer und setze sie auf das Bett, ich setze mich
daneben. »Was denkst du dir dabei, so frech zu sein?« – »Ich bin
gar nicht frech!« Ich will mich auch nicht in eine endlose Dis kus­
sion zwingen lassen. »Versprich mir, jetzt ordentlich zu essen, sodass
wir zurück an den Tisch können.« – »Du könntest ja auch mal lieb
fragen, nicht immer so böse!« – »Ich bin nicht böse, ich bin nur
etwas sauer!« – »Immer bist du sauer, sauer, sauer! Du könntest ja
auch mal lieb sein«, sagt Juli. Ich hole tief Luft und frage, so als hätte
ich einen ganzen Heliumballon eingesaugt: »Möchtest du jetzt bitte
zum Tisch kommen und ordentlich essen, damit wir es alle schön
haben, liebe Juli?« Das ist ihr dann lieb genug.
Während wir zum Tisch zurückschlurfen, wo das Essen gerade kalt
wird, frage ich mich, warum Juli eigentlich mal wieder das letzte
Wort hatte. Und als Juli endlich »ordentlich« isst, fällt mir ein, dass
sie oft einen Nervenzusammenbruch bekommt, wenn man ihr Zim­
mer aufräumt. Und dann mit Mühe alles wieder hervorkramt, bis es
aussieht wie vorher. Vielleicht ist Julis Vorstellung von »Ordnung«
einfach, dass absolut nichts in den Schubladen, sondern alles auf
dem Boden liegen muss. Von diesem Standpunkt aus isst Juli sehr or­
dentlich, und ich könnte das ruhig freundlicher kommentieren.

Prüfers Töchter MEINE 5-JÄHRIGE

Illustration Aline Zalko

Juli ist 5 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt hier


im wöchentlichen Wechsel über sie und seine
anderen drei Töchter im Alter von 19, 14 und 12 Jahren

»Ich ess doch


ordentlich!«

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