Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

4 POLITIK 15. August 2019 DIE ZEIT No 34


D


ie einen meinen, er sei die Zu-
kunft der sPD.
Die anderen glauben, dass
das Ende der sPD nah sein
müsse, wenn die Zukunft so
aussehe.
Bevor man Kevin Kühnert
das erste Mal trifft, hat man bereits so viele Mei-
nungen über ihn gehört, dass man ihm fast nicht
mehr unbefangen begegnen kann.
Deswegen ist es ganz gut, sich noch einmal die
Ausgangslage vor Augen zu führen, für Kühnert und
für die sPD: Kühnert ist Mitglied einer Partei, in
der die großen Karrieren vor allem zu Ende gehen.
sie enden in der Rastlosigkeit, wie bei sigmar ga-
briel. In der Agonie, wie bei Martin schulz. Oder in
der Eifel, wie bei Andrea Nahles. Eigentlich gibt es
nur einen, dessen Karriere in der sPD gerade be-
ginnt. und das ist Kevin Kühnert.
Wenn man ihn ein knappes Jahr begleitet, erlebt
man spitzengenossen, die so lange in der Partei
sind, wie er auf der Welt ist – und die nun um sei-
nen Rat bitten. Man erlebt Freunde, die fragen, ob
sie den termin zum Dartspielen besser mit seinem
Büroleiter vereinbaren sollen. Man trifft Menschen,
die in Restaurants oder auf der straße spontan ste-
hen bleiben, um ihn zu umarmen. Oder zu be-
schimpfen.
Nun wird er für den Parteivorsitz der sPD ge-
handelt, ein Amt, von dem viele sagen, dass es viel
zu früh für ihn komme, von dem manche wollen,
dass er jetzt danach greift, und von dem er selbst
ahnt, dass es zu groß für ihn ist. Aber größe ist in
der Politik immer relativ. Ein Posten ist so groß wie
die Hoffnungen, die sich mit ihm verbinden. und
ein Juso-Chef ist so groß wie das Vakuum, das die
Parteiführung hinterlässt.
Doch im Verlauf jenes Jahres versteht man eben
auch, wie aus einem Witz irgendwann eine reale
Option werden konnte: ein Dreißigjähriger ohne
Mandat und ohne Exekutiverfahrung an der spitze
einer hundertsechsundfünfzigjährigen Partei.





    1. 2018: Kühnert stellt Koalition infrage
      (»Süddeutsche Zeitung«)





    1. 2018: So plant die SPD den Aufstand gegen
      den Maaßen-Deal (»Bild«)





    1. 2018: Koalition will heute noch Krise
      entschärfen (»Welt am Sonntag«)





    1. 2018: Der SPD bleibt nur die Notbremse
      (»Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«)





    1. 2018: Das Prinzip Kühnert (»Spiegel«)



  1. September 2018: Aus Ruinen


An der tür des Wirtshauses in der kleinen stadt im
Allgäu hängt ein Plakat: »Kevin kommt«. Aber Küh-
nert ist schon da. Er sitzt am Kopfende eines ti-
sches, auf einer Holzbank. Vor ihm steht ein halb
volles Bierglas, dahinter hat er sein Handy versteckt.
Zwischendurch schielt er auf den Bildschirm. und
plötzlich ballt er die Faust unter dem tisch.
Welche Erwartungen sich an Kevin Kühnert rich-
ten, kann man in diesem Moment an sich selbst be-
obachten und an den gedanken, die einem durch den
Kopf gehen: Vermutlich Nachrichten aus Berlin.
Vielleicht eine Einigung im Koalitionsstreit? Eventuell
sogar ein Rücktritt? sicherheitshalber greift man selbst
nach seinem Handy, aber dort ist nichts zu sehen.
Denn in Berlin ist niemand zurückgetreten. Es
ist bloß ein tor gefallen. Kühnerts Lieblingsverein
Arminia Bielefeld hat das 1 : 1 gegen den FC union
geschossen.
Kevin Kühnert hat ein Leben außerhalb der Politik,
auch wenn man es inzwischen kaum glauben kann.
Während er an diesem Wochenende durch Bayern
reist, ist seine Partei gerade wieder einmal dabei, sich
um ihr Leben zu reagieren. Der Verfassungsschutzprä-
sident Hans-georg Maaßen hatte nach den rechtsextre-
men Ausschreitungen in Chemnitz von »gezielten
Falschinformationen« gesprochen und erklärt, dass es
in Chemnitz keine Hetzjagden gegeben habe. und die
sPD-spitze hatte darin zunächst kein Problem erkannt.
Es war Kühnert, der sich als Erster gegen Maaßen
stellte und dessen Rücktritt zur Bedingung für den
Fortbestand der Koalition machte. Er sprach von einer
»roten Linie«. und binnen weniger stunden war Küh-
nerts rote Linie auch die rote Linie der Parteiführung.
Dann einigte sich die Koalition darauf, Maaßen
vom geheimdienstchef zum staatssekretär im Innen-
ministerium zu befördern. Andrea Nahles versuchte,
ihrer Partei das als Erfolg zu verkaufen. Es folgten ein
Aufstand in der sPD, scharfe Worte vom Juso-Chef
und Krisensitzungen der Koalitionsspitzen in Berlin.
An diesem tag hätte man nicht darauf gewettet, dass
die Koalition das Wochenende übersteht.
Die Politik, heißt es oft, sei ein Langstreckenlauf.
Voran gehe es nur langsam, und am Ende entscheide
die Zähigkeit. Bei Kevin Kühnert scheint das nicht zu
gelten.
Noch vor etwas mehr als einem Jahr war er: Ab-
geordneter in der Bezirksversammlung tempelhof-
schöneberg, ehemaliger Mitarbeiter in einem Call-
center und student der Politikwissenschaft ohne
Abschluss.
Vor neun Monaten hielt er seine erste große
Rede. »Wir, die hier in fünf, zehn, zwanzig Jahren
Verantwortung übernehmen sollen, wollen und
auch müssen, wir haben ein Interesse daran, dass
dann noch was übrig bleibt von diesem Laden, ver-
dammt noch mal«, lautete der satz, der mit jedem
tag, der seitdem vergangen ist, ein bisschen dring-
licher erscheint.
In jenem september heißt es über ihn, er sei in
der sPD das größte politische talent seit gerhard
schröder. Er steht im Zentrum einer mittleren
staatskrise. und in einem Betrieb, in dem Relevanz
eine entscheidende Währung ist, könnte es für ihn
in diesen tagen kaum besser laufen.
Doch Kühnert wirkt an diesem tag alles andere
als euphorisch. später am Abend sitzt er am tresen
einer Bar und sagt, er verstehe es nicht, wie ein sol-
cher Fehler habe passieren können. Eine Parteispit-
ze müsse doch erkennen, dass ein solcher Deal nicht


Wie die SPD einen neuen Vorsitz wählen will



  1. September:
    Die Bewerbungsfrist für den
    sPD-Vorsitz endet. Am selben
    tag wählen die Bürger in
    sachsen und Brandenburg ihre
    Landtage.
    4. September:
    In saarbrücken findet die
    erste von insgesamt 23
    Regionalkonferenzen statt.


14.–25. Oktober:
Online oder per Briefwahl
dürfen in diesem Zeitraum alle
sPD-Mitglieder über die
Kandidaten abstimmen.


  1. Oktober:
    Das Ergebnis der urwahl wird
    bekannt gegeben. Hat kein
    Kandidat die absolute
    Mehrheit der stimmen
    bekommen, gibt es danach eine
    stichwahl zwischen den beiden
    Erstplatzierten.


6.–8. Dezember:
Auf dem Parteitag wählen die
Delegierten eine neue Parteifüh-
rung. Das Votum des Mitglie-
derentscheids ist rechtlich nicht
bindend. Es gilt jedoch als
ausgeschlossen, dass sich der
Parteitag darüber hinwegsetzt.

Kevin Kühnert hat guten Grund, skeptisch dreinzuschauen. Er ist Sozialdemokrat

Vorwärts! Aber wohin?


Viele in der sPD fordern, dass Juso-Chef Kevin Kühnert für den Parteivorsitz kandidieren solle.


Anfangs klang das wie ein Witz. Doch jetzt wird es ziemlich ernst VON ROBERT PAUSCH


Fotos: Götz Schleser für DIE ZEIT (S. 4, Ausschnitt); Thorsten Wagner/EPA/REX/Shutterstock (S. 5)
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