Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

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Harald Martenstein


Über eine Prüfstelle für Literatur, die unsensible Textstellen aufspürt


Illustration Martin Fengel
Zu hören unter http://www.zeit.de/audio

Harald Martenstein


ist Redakteur des »Tagesspiegels«


Ein Leser hat mich auf die Literaturprüfstelle Sensitivity Reading


aufmerksam gemacht. Sensitivity Reading checkt gegen Honorar
deutschsprachige Texte auf »schädliche oder missverständliche Dar-


stellungen und Mikroaggressionen«. Die Prüferinnen »besprechen
mit den Autor
innen die problematischen Aspekte und zeigen


Alternativen auf«. Sie sind »meist Personen aus marginalisierten
Gruppen«. Leider prüfen sie Manuskripte »nicht auf Logikfehler


im Plot oder Stil«, obwohl Leute wie ich Logikfehler durchaus als
Mikroaggression empfinden.


Mit Zensur habe dies nichts zu tun. Echt? Die Idee ist, dass Be-
troffene prüfen, ob ihre Gruppe in einem Roman so beschrieben


wird, wie sie selbst es sich wünscht. Dies bedeutet, man kann’s nicht
oft genug sagen, das Ende der Literatur. In der Literatur spielt die


Subjektivität des Autors, die recht speziell sein kann, eine tragende
Rolle. Allein schon das negativ besetzte Wort »missverständlich«!


Gerade durch Vieldeutigkeit werden Texte oft gut. Dem Himmel sei
Dank, dass Kafka nicht klarstellen musste, welches Re gime genau er


in Der Prozess beschreibt. Heute müsste er vielleicht im Vorwort be-
teuern, dass nicht die Grünen gemeint sind.


Lustigerweise haben sie mir, damals, als ich als Journalist anfing,
die genau entgegengesetzte Vorgehensweise beigebracht. Da hieß


es: »Wenn Sie über eine Person schreiben, dann geben Sie ihr bloß
nicht vor der Veröffentlichung das Manuskript zu lesen. Die Person


wird verlangen, dass alles gestrichen wird, was ihrem Image schadet.
Zeigen Sie dem Porträtierten nur dessen wörtliche Zitate.«


Was tun, wenn ein Marginalisierter selbst etwas Unvorteilhaftes
über seinesgleichen erzählt? »Zu Recherchezwecken mit Betrof-


fenen zu reden«, heißt es auf der Web site, »stellt kein Sen si tive


Reading dar. In diesem Fall werden die Inhalte nicht ausreichend
geprüft«, auf Gefälligkeit, was sonst. Man soll »problematische Kli-
schees« und »Stereotype« vermeiden. Gestresste Alleinerziehende,
Politiker mit Alkoholproblem, Türken, die Döner säbeln, das
sind Klischees, die sich manchmal aufdrängen. Man muss halt die
»problematischen« herausfiltern.
Manche Sachen sind so krass, dass sie nicht mal zur Prüfung zu-
gelassen werden. Autoren sollen »triggernde Inhalte« vorher be-
nennen, damit die Prüfer*innen »das Projekt vorsorglich ablehnen
können«. Rike zum Beispiel, die sich unter anderem auf das Thema
»Fat shaming« spezialisiert hat, lehnt »Erotica, Horror oder Thriller«
komplett ab. Dicke Vampire, die Sex haben, tun ihr zu sehr weh.
In den Tweets einer Prüferin habe ich sogar ein Bilderbuch meines
Sohnes entdeckt, das zu unsensibel ist. Ein Bild darin zeigt eine
Feuerwehrfrau, die, immerhin gemeinsam mit einem Kollegen, das
Feuerwehrauto putzt. Putzende Frauen gehen nicht. Aber Feuer-
wehrleute tun das doch. In einem anderen Tweet regt sich Prüferin
Victoria über ein Plakat auf, das einen Lehrer an der Tafel zeigt.
»Ein weißer Typ soll meinen Kindern die Welt erklären? Näh.« Ein-
stein geht auch nicht.
Nun könnte man einwenden, dass man sich dem Sen si bi li täts-Check
schließlich nicht unterwerfen muss. Ich aber sage: Ich bin ein Trend-
scout. Das ist der Trend. Irgendwo habe ich gelesen, dass in unserer
Weltgegend die Hauptgefahr für die Freiheit nicht von Regierungen
kommt. Der Ruf nach Zensur schallt aus der Gesellschaft. Etliche
Gruppen ertragen es nicht, dass andere anders reden oder denken als
sie. Und kaum jemand wagt es, sich ihnen entgegenzustellen, weil
das alles in der Verkleidung einer höheren Moral daherkommt.
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