Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

Samstag, 10. August 2019 WIRTSCHAFT 23


Die japanische Post hat vi ele Rentner über den Tisch


gezogen – die Chefs ber euen und verbeugen sichSEITE 25


Norwegen gleist eine Reform seiner Staatsbahn auf, bei


der auch ausländische Anbieter zum Zug kommen SEITE 26


Schon bald wirdder neueKonzernchef der ABB ins Rampenlicht treten. WALTER BIER / KEYSTONE

ABB sucht einen Teamplayer-Boss

Der Industriekonzern will einen Chef, der weder autoritär ist noch einen Schweizer Pass besitzt


Der neue CEO des


schweizerisch-schwedischen


Konzerns ABB wird den Leitern


der vier Sparten viel Eigenstän-


digkeit einräumen müssen. Die


Schweden sähen am liebsten


einen der Ihrigen an der Spitze.


DOMINIK FELDGES


Noch ist die NachfolgeanderKonzern-
spitze der grössten Schweizer Industrie-
gruppe,ABB, nicht geregelt. Doch lange
sollte sich die Suche nach einem Ersatz
für Ulrich Spiesshofer nicht mehr hin-
ziehen. Spiesshofer, der aus Süddeutsch-
land stammt,inzwischenaberauch den
SchweizerPass besitzt, musste im ver-
gangenen April nach knapp fünfeinhalb
Jahren im Amt überraschend zurück-
treten.VerwaltungsratspräsidentPeter
Voser, der seit dem Abgang Spiesshofers
die Geschäftsleitung interimistisch be-
kleidet, hat die Erwartungen auf einen
baldigen Abschluss desRekrutierungs-
verfahrens hochgeschraubt.


Es läuft «besserals geplant»


Anlässlich der Präsentationdes Semes-
terergebnisses sagte der Aargauer vor
zweiWochen, die Suche laufe«besser als
geplant».Wie aus Kreisen des Unterneh-
mens zu vernehmen ist, dürfte auf jeden
Fall noch während des dritten Quartals
bekanntgegeben werden, wer denPosten
erhalten wird. AlsVoser am17.April die
Tr ennung von Spiesshofer verkündete,
sagte er,dass man auf der Suche nach
einem Nachfolger interne und externe
Kandidaten prüfen werde. DasWunsch-
profil umschrieb er wie folgt: Man su-
che vor allemjemanden, der sich inFra-
gen der industriellen Digitalisierung aus-
kenne und die Bereitschaft für ein mehr-
jähriges Engagement mitbringe.
Nach Einschätzung des Verwal-
tungsratspräsidenten wird es rund fünf
Jahre brauchen, um die vomAufsichts-
gremium neu definierteKonzernstra-
tegie umzusetzen. Der künftige CEO
wird also einiges anAusdauer mitbrin-
gen müssen. Zugleich ist klar, dass sein
Gestaltungsraum zumindest am Anfang
begrenzt sein wird. DerVerwaltungsrat
erwartet, dass die kurz vor Ende 20 18
noch vonSpiesshofer vorgestellte Stra-
tegie ohne grosseRetuschen implemen-
tiert wird. Sie sieht imKern eineKon-
zentration auf die vier Divisionen Elek-
trifizierung, Industrieautomation,Robo-
tik und Fertigungsautomation sowie
Antriebstechnik vor. Die Stromnetz-
sparte, die das Geschäft mit den Betrei-
bern von Hochspannungsleitungen um-
fasst, überlässt dieFirma mehrheitlich
dem japanischenKonkurrenten Hitachi.
DieTr ansaktion soll bis Mitte 2020 über
die Bühne gehen.


Kein Mikromanager mehr


Noch bedeutender als derVerkauf der
Netzwerksparte wird für den neuen
Konzernchef derVerzicht auf die bis-
herige Matrixorganisation sein. Die
Ländergesellschaften, die ABB jahr-
zehntelang vor allem wegen des staats-
nahen und starkregional ausgepräg-
ten Geschäfts mit Elektrizitätsversor-
gern betrieben hat, werden abgeschafft.
Die zahlreichenAufgaben, die Mitarbei-
ter dieserTochterfirmen beispielsweise
imVerkauf oder in derFinanzbuchhal-
tung erfüllt haben, werden imRahmen
einerkomplexenReorganisation zur-
zeit in die einzelnen Divisionen trans-
feriert (vgl. Zusatz). Die neueAufstel-
lung soll einen Beitrag dazu leisten, dass
Entscheide schneller getroffen werden
und die verschiedenen Geschäftsberei-
che näher am Markt agieren können.


Zugleich schwebt demVerwaltungs-
rat eine neueRolle für denFirmenchef
vor. Gefragt sind nicht mehr die Quali-
täten eines Managers, der die Zügel kurz
hält und jede Division genau beaufsich-
tigt. Die veränderteKonzernstrategie
sieht für die vier Spartenleiter deutlich
mehrAutonomie vor. Sosollen sie weit-
gehend selber entscheiden, ob sie bei-
spielsweise ihre Belegschaftvergrössern
oder Standorte abbauen wollen. Dies hat
zurKonsequenz, dass derFirmenchef
künftig eher als Primus interPares fun-
gieren wird.SeineRolle wird sich in ers-
ter Linie auf jene einesPortfoliomana-
gerskonzentrieren. So obliegt es ihm,
festzulegen, wie die Mittel für Akqui-
sitionen auf die einzelnen Sparten ver-
teilt werden.Er wird zusammen mit dem
Finanzchef auch weiterhin der zentrale
Ansprechpartner für Investoren sein.
Eine derart dezentrale Organi-
sation ist bei Grossfirmen nicht un-
üblich. Sie wirdbeispielsweise seit lan-
gem vom weltgrössten Gesundheits-
konzern,Johnson &Johnson,prakti-
ziert. In der Schweiz hatsich jüngst
das Chemieunternehmen Lonza die-
sem Modell verschrieben.Parallel zur
Stärkung der Divisionen soll auch die
Eigenverantwortung jedes Beschäftig-
ten wachsen. Angesichts einer Beleg-
schaft vonknapp 150000 Mitarbeitern
scheint dies ein ausgesprochen heh-
resZiel zu sein.Doch ABB kann und
will sich einemTr end nicht verschlies-
sen, dem zahlreiche andereFirmen fol-
gen, die sich stark mit der Digitalisie-
rung ihres Geschäfts befassen. Unter-
nehmen, deren Mitarbeiter nicht grosse
Selbständigkeit geniessen, werdengene-
rell schlechte Karten in der Bewältigung
der sichimmer schneller wandelnden
Marktbedürfnisse eingeräumt.
Voser geniesst unter Anlegern gros-
senRespekt.Viele Investoren rechnen
dem heute knapp 61-Jährigen hoch an,
dass er alsFinanzchef mithalf,ABB
nach derJahrtausendwende durch eine
existenzielle Krise zu steuern,als sich
derKonzern mit hohen Schadenersatz-
forderungenkonfrontiert sah. Aller-
dingskonnte auchVoser, der seit Ende
April 20 15 alsVerwaltungsratspräsident
amtiert, den starkenWertzerfall der
Aktie während der vergangenen ein-
einhalbJahre nicht verhindern. Seit An-
fang 20 18, als derKurs bis auf rund 27

Fr. gestiegen war, ist es mit dem ABB-
Papier fast unablässig nach unten ge-
gangen. Mittlerweile hat die Notierung
um über einen Drittel auf unter 18 Fr.
nachgegeben.

Wunschkandidathat Chancen


Vom neuenKonzernchef wird erwartet,
dass er diesenTr end brechen und für
eine deutliche Erholung sorgen kann.
Derartiges trauen Investoren offen-
bar dem schwedischen Manager Björn
Rosengren zu. Der heutige Chef des
Maschinenherstellers Sandvik scheint
sich in derFinanzgemeinde als eine
ArtWunschkandidat für dieKonzern-
spitze von ABB herauskristallisiert zu
haben. Der US-Grossaktionär Artisan
Partners äusserte vorigeWoche öffent-
lich die Ansicht, dass man eineWahlRo-
sengrens angesichtsseinerLeistungbei
Sandvik begrüssen würde. Der Börsen-
wert der schwedischen Industriefirma
hat sich um fast 70% erhöht, seitRosen-
gren dort im November 20 15 dasZepter
übernommen hat.
Für den Manager dürfte aus Sicht
von ABB vor allem seine Affinität zu
dezentralen Strukturen sprechen.Wie

die Nachrichtenagentur Bloomberg her-
vorhebt, war er in den vergangenenJah-
renstark bemüht, seinen Untergebenen
mehr Gestaltungsfreiraum zu geben.
Sollte er tatsächlich zum neuen ABB-
Chef ernannt werden, würden ihm auch
seineVerbindungen zurWallenberg-
Familie nützen. Sie rühren von seiner
früheren Tätigkeit alsManagerbei Atlas
Copco her –einem schwedischen Inves-
titionsgüterhersteller, bei dem die von
denWallenbergskontrollierteFinanz-
firma Investor, ähnlich wie bei ABB,
von allen Aktionären die grösste Betei-
ligung hält.
Noch ist dies aber alles bloss Speku-
lation. Zwar sähe man es in Schweden,
dem neben der Schweiz zweiten Her-
kunftsland der ABB-Gruppe, zweifel-
los gerne, wenn wenigstens eines der
beiden Spitzenämter nach vielenJah-
ren wieder in schwedische Hände ge-
langen würde. Doch stellt sich die
Frage, ob einbereits 60-jähriger Mana-
ger der richtige Mann ist, um einen
Konzern, der sichstark von einem
Investitionsgüterhersteller zu einem
Technologieunternehmen gewandelt
hat, in die Zukunft zu führen.
«Reflexe», Seite 32

Die britische


Wirtschaft


ist geschrumpft


Der Brexit-Effekt lähmt die Firmen


bet.London· Das Chaos um den Brexit
hat die britischeWirtschaft imFrühjahr
auf eineAchterbahnfahrt geschickt.
DieWirtschaftsleistung schrumpfte im
zweiten Quartalreal um 0,2% gegen-
überJanuar bis März, wie das natio-
nale StatistikbüroamFreitag mitteilte.
Das ist der ersteRückgang des Brutto-
inlandprodukts(BIP) seit demJahr
2012,aberauch eine Gegenbewegung
zu den Geschehnissen des ersten Quar-
tals. Damals war das BIPüberdurch-
schnittlich stark um 0,5% gewach-
sen. Gleichwohl überraschte dieKon-
traktion von April bisJuni. Die grosse
Mehrheit der Marktbeobachter hatte
nur miteinerStagnation gerechnet.Das
Pfund sank zum Euro auf den tiefsten
Stand seit zweiJahren.

Die Importblase ist geplatzt


Der neueFinanzminister und Brexit-Be-
fürworter SajidJavid verwies in einer
Reaktion auf die nachlassende glo-
baleKonjunkturdynamik, die tatsäch-
lich eine Rolle gespielt haben dürfte.
Die britischenWarenexporte gingen im
zweiten Quartal um 1,5% zurück. In der
Handelsbilanz wurde das allerdings von
einem Einbruch der Importe um 13%
oder 18 Mrd. £ (21 Mrd.Fr.) deutlich
überlagert.Dahinter steckt eindeutig
der Brexit-Effekt.
Zu Beginn des laufendenJahres
stand noch der 31.März 20 19 als Brexit-
Datum fest.Weil einrechtzeitigesAus-
trittsabkommen mit Brüssel aber immer
unwahrscheinlicher wurde,bereiteten
sich die Unternehmen auf ein No-Deal-
Szenario vor.Weil bei einer plötzlichen
Einführung vonGrenzkontrollen und
Zöllen mitLieferengpässen undVe r-
zögerungen zurechnen wäre, bestellten
sieWaren aufVorrat und stockten ihre
Lager auf. Darausresultierte im ersten
Quartal ein starker Anstieg der inlän-
dischen Produktion sowie der Importe
und ein über demTr end liegendesWirt-
schaftswachstum.
Nachdem der Brexit auf Ende Okto-
ber verschoben wurde,fiel dieser Stimu-
lus weg. Zusätzlich wurde dieWirtschaft
geschwächt, weil dieFirmen dazu über-
gegangen sind, ihreLager zu leeren, be-
vor sie neu produzieren oder bestellen.
Zudem ist ihre Liquiditätstrapaziert
worden.Das verarbeitende Gewerbe
schrumpfte von April bisJuni zumVor-
quartal um 2,3%, der grössteRückgang
seit April 2009. Die Industrieproduktion
sank um 1,4% – so viel wie letztmals
Ende 2012. DerBausektor verlor1,3%.
Nur der sehr wichtige Dienstleis-
tungssektor legte leicht zu; das Plus von
0,1% ist aber das schwächste seit drei
Jahren. Die Investitionen der Unterneh-
men gingen um 0,5% zurück. Schliesst
man von den ersten beiden Quarta-
len auf das ganzeJahr, ergibt sich ein
annualisiertes BIP-Wachstum von 0,6%


  • deutlich weniger als dasTr endwachs-
    tumvon rund1,5%, wie die Grossbank
    Barclays schreibt.


Eine Rezessionist nicht sicher


Spekuliert wird nun, ob die britische
Wirtschaft in eineRezessionrutscht.
Zwar sind dievorauslaufendenKon-
junkturindikatoren wenig berauschend,
aber es gibt Lichtblicke: DerKonsum
der Haushalte scheint nicht beeinträch-
tigt; er wuchs im zweiten Quartal um
0,5% und damit fast so stark wie von
Januar bis März. Ausserdem legten
vieleAutohersteller im April Produk-
tionspausen ein, um ein mögliches Bre-
xit-Chaos auszusitzen.Das dämpfte das
BIP.Doch wird nun imAugust in vie-
lenFabriken ausserplanmässig gearbei-
tet.Was allerdings imFall eines chaoti-
schen Brexits im vierten Quartal pas-
siert, das steht auf einem anderen Blatt.

Künstliche Intelligenz kommt nach Baden


df.· Die rund 60 00 Mitarbeiter der bis-
herigen SchweizerLändergesellschaft
von ABB wissen nun, ob und in wel-
cherFunktion sie weiterbeschäftigt wer-
den. Sie sind imJuli informiert worden
und haben Änderungsverträge erhal-
ten. Erwartungsgemässkommt es nur
zu sehr wenigenKündigungen in der
Schweiz. Die Zahl sei verschwindend
klein, heisst es in derKonzernzentrale.
Weil die Schweizer Einheit wie alleLän-
dergesellschaften derFirma aufgelöst
wird, stehen die Mitarbeiter neuent-
weder auf der Lohnliste einer der vier
bei ABB verbleibenden Unternehmens-
sparten oder werden zu Hitachi trans-
feriert. Letzteres betrifft die Beschäftig-
ten der bisherigen Division Stromnetze
(Power Grids), die hierzulande beson-
ders stark vertreten ist und rund 2600
Mitarbeiter zählt.
Erfreulich aus hiesiger Sicht ist, dass
ABB, wie die NZZ in Erfahrung brin-

genkonnte,vor kurzem mit demAuf-
bau einesLabors für künstliche Intel-
ligenz in der Schweiz begonnen hat.
Es wird dem bestehendenForschungs-
zentrumdesKonzerns inBaden-Dätt-
wil angegliedert.Wie vielePersonen
dort arbeiten werden, ist noch offen.
Zusammen mit den Beschäftigten an
zwei weiteren Standorten (in den USA
und in China) soll jedoch ein «signifi-
kantesTeam» entstehen.
So weit wie in der Schweiz ist die per-
sonelleReorganisation bei ABB noch in
kaum einem anderenLand fortgeschrit-
ten. In Deutschland beispielsweise,
einem weiteren bedeutenden Stand-
ort derFirma, warten die Beschäftigten
immer nochauf Informationen zu ihrer
Zukunft.Laut dem Unternehmen liegen
die Pläne für dieReorganisation mittler-
weile aber vollständig vor und sollen bis
Ende diesesJahres weltweit implemen-
tiert werden.
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