Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

Samsta g, 10. August 2019 WIRTSCHAFT 25


Wenn der Pöstler zweimal abkassiert


Ausgerechnet die frühere Staatspost missbraucht das Vertrauen der Japaner – schuld sind falsche Anreize


MARTIN FRITZ,TOKIO


Bei über 30 Grad Hitze undhoher
Luftfeuchtigkeitkommen die Mitarbei-
ter der japanischenPost in diesenTa -
gen noch aus einem anderen Grund
ins Schwitzen:TausendeKunden for-
dern persönlich in denFilialenAufklä-
rung darüber, ob sie in den vergange-
nen fünfJa hren beim Abschluss einer
Lebensversicherung übers Ohr ge-
hauenwurden. Zugleich schwärmen
Hunderte vonPöstlern aus und besu-
chen die möglicherweise betrogenen
Kunden zu Hause. Zuvor hatte eine in-
terne Untersuchung 183000 Schadens-
fälle ans Licht gebracht.


Schlampen – dann verbeugen


Der Skandal erschüttert dasVertrauen
der Bürger in eine öffentliche Institu-
tion mit bisher tadellosemRuf. Mit Ein-
lagen von umgerechnet 1700 Mrd.Fr.
zähltJapansPost zu denFinanzriesen
derWelt.Vor allem abseits der japani-
schen Grossstädtesind ihrelandesweit
fast 25 000 Filialen dank eigenen Schal-
tern fürBank- undVersicherungsdienste
oft die einzige verbliebeneAnlaufstelle
in Geldsachen.Von derPostbank wer-
den 120 Mio. Konten gefunden, und dar-
über hinaus schlossenKunden 20 Mio.
Verträge für Lebens- undAusbildungs-
versicherungen ab.
Doch EndeJuli traten die Chefs
derDachgesellschaftJapanPost Hol-
dings, vonJapanPost Insurance und
der VertriebsgesellschaftJapan Post
Co. in schwarzen Anzügen gemeinsam
vor die Presse. Mit einer tiefen rituel-
lenVerbeugung baten die drei Mana-
ger um Entschuldigung. «Wir haben
dasVertrauen unsererKunden übel
betrogen, es bricht mir das Herz», ge-
stand Masatsugu Nagato, der Präsident
derDachgesellschaft. DerPostchef ver-
sp rach eine interne Untersuchung der
Praktiken durch drei ehemalige Staats-
anwälte sowie einen finanziellenAus-


gleich für alle geschädigtenKunden. Bis
EndeAugustverzichtenalle Filialen auf
den aktivenVertrieb vonVersicherun-
gen undWertpapierfonds.
Konkret geht es um denWechsel
von Lebensversicherungsverträgen,
die Vertriebsmitarbeiter bestimmten
Kunden empfahlen. In 70 000 Fällen
lief der alteVertrag noch bis zu sechs
Monate weiter. Dadurch kassierte die
Postversicherung die Prämien doppelt.
Gleichzeitig konnte der Mitarbeiter
denFolgevertrag als Neuabschluss ver-
buchen und dafür einen Bonus erhalten.

19000 Kunden,die einemWechselzu-
stimmten, verloren dadurch ihrenVer-
sicherungsschutz. Sie hatten inzwischen
Krankheiten erlitten, die den Abschluss
eines neuenVertrages verhinderten. Bei
weiteren 25 000 Kunden verschlechter-
ten sich die Bedingungen derVersiche-
rung,etwa alsFolge einer niedrigeren
Verzinsung ihrer Sparraten.
Viele Geschädigte sind Rentner.
Fast 30% der Versicherungskunden
sind älter als siebzigJahre. Diese Gene-
ration schätzt die altmodischen Spar-
pläne der Lebensversicherung noch. Ge-

mäss einem japanischen Medienbericht
wurden einer neunzigJahre alten, ge-
schwächtenFrau in zehnJahren 54Ver-
träge angedreht.Wurden dieKunden
nicht genügend aufgeklärt,war dies
illegal. DieFinanzaufsicht FSA leitete
bereits eine eigene Untersuchung ein.

Zu enges Geschäftsfeld


Als Ursache für die illegalen Praktiken
identifizierte diePostführung die über-
zogenenVorgaben für denVertrieb. Die
Umsatzziele passten nicht mehr in die

geänderten Zeiten, räumte derVertriebs-
chefKunioYokoyama ein. Gemeint ist:
Eine kapitalbildende Lebensversiche-
rung ist im heutigen extremenNiedrig-
zinsumfeldkeine attraktiveWertanlage
mehr. Zugleich lassen sich wenigerPoli-
cen absetzen, wenn die Bevölkerung so
rasch altert und schrumpft wie inJapan.
Die Entwicklung bringt diePost in eine
Zwickmühle.Die Provisionen aus dem
Vertrieb vonBank- undVersicherungs-
diensten in denFilialen bilden eine der
wenigen Ertragsquellen. Anders als pri-
vate Geschäftsbanken darf die Post
keine Kredite vergeben und nur wenige
Finanzprodukte verkaufen.
Vor fast vierJahren ging der japani-
sche Staat dazu über, seinen Aktienbesitz
an derBank- undVersicherungssparte
sowie derDachgesellschaft an der Börse
zu versilbern. Um die Privatisierung war
Jahrzehnte gerungen worden, der Staats-
besitz sollte zuletzt auf einen Drittel sin-
ken.Das Finanzministerium wollte die
dritteTr anche für weitere umgerechnet
12 Mrd.Fr. im September erneut Pri-
vatanlegern anbieten.Daraus wird wohl
vorerst nichts.Womöglich wurzelt der
Skandal in der Privatisierung. «Seit dem
Aktienverkauf verlangen private Inves-
toren von derPost, denVertrieb zu stär-
ken und die Erträge zu steigern», sagt der
BankenanalytikerTakahiroSekido.
DieDachgesellschaft derPost hatte
im April kurzfristig Aktien derPost-
versicherung für 4,1 Mrd.Fr. an der
Börse platziert. Der Zeitpunkt wenige
Monate vor dem Bekanntwerden des
Skandals weckte bei vielenJapanern
denVerdacht, dass diePostführung die
Unregelmässigkeiten imVertrieb ab-
sichtlich unterVerschlusshielt, um die
Aktien loszuschlagen. DerPostchef Na-
gato wies dies zurück und bestritt jede
Kenntnis. Inzwischen berichteten japa-
nische Medien jedoch, dass sich bereits
in den vergangenen zweiJahren über
1000 Kunden über doppelt abgebuchte
Prämien beschwert haben. DiePost
habe das Geld dann zurückerstattet.

Postchef Masatsugu Nagato(Bildmitte)und zweiweitere Führungsverantwortliche nehmen zum Skandal Stellung. K. OTA/BLOOMBERG

Eine ne ue Kraft für Heinz-Ketchup


Miguel Patricio sol l die verstaubten Marken wiederbeleben – das kann er gut


bu. Salvador· MiguelPatricio hat schon
zu Beginn seiner Karriere bewiesen,
dass er durchsetzungsfähigist.Das war
beim brasilianischen BrauerAmbevvor
zwanzigJahren. «Terminator» Arnold
Schwarzenegger wollte am Karneval
von Rio deJaneirokein T- Shirt desBier-
Sponsors überziehen.Dawarf ihnPatri-
cio kurzerhand aus der VIP-Lounge.
Diese Chuzpe wird der in Brasilien auf-
gewachsenePortugiese nun erneut be-
weisen müssen. Am1. Juli hat Miguel
Patricio seinenJob als CEO von Kraft
Heinz angetreten. Am vergangenen
Donnerstag verkündete er katastrophal
schlechte Zahlen: Nach derRekordab-
schreibung von 17 Mrd. $ Anfang des
Jahres muss derKonzern erneutWerte
von 1,2 Mrd. $ berichtigen. Der Gewinn
und die operativeRendite sind im ersten
Halbjahr imJahresvergleich um mehr
als die Hälfte weggebrochen.


Gesund und lokal sindTrumpf


DiesesResultat sei absolut inakzepta-
bel, sagtPatricio.«Wir müssen dafür sor-
gen, dass unsere Marken-Ikonen weiter-
leben.» Doch das ist schwierig: Es sind
Marken des letztenJahrhunderts wie
Heinz-Ketchup,Philadelphia-Frischkäse
oder dieTütenlimonade Capri-Sun.Vo r
allem die jüngerenKonsumenten in den
USA, wo derKonzern zwei Drittel sei-
nesUmsatzesrealisiert, wenden sich von
denFertigprodukten ab. Sie wollen bil-
ligere, gesündereoder lokal hergestellte
Produkte. Das alles hat Kraft Heinz ver-
schlafen.PatriciosVorgänger Bernardo
Hees hat denKonzern aufRendite ge-
trimmt, aber die Marken vernachlässigt.
Der 52-jährige Patricio soll nun
gegensteuern. Zuvor hat er den brasilia-


nischen BrauerAmbev bei dessenAuf-
stieg zum weltgrössten Braukonzern
ABI (Budweiser, Stella Artois, Corona,
Miller) begleitet – und erlebt, wie steti-
gesAusgabenstreichen die Marken schä-
digen kann. «Auf demWeg zu Effizienz
sind uns Innovationund Kreativität ver-
loren gegangen», wiePatricio beobach-
tet hat. «Mit unserem Effizienzwahn

haben wir dieKonkurrenz überholt.
Aber es hätte nicht geschadet, wenn wir
gleichzeitig ein bisschen innovativer ge-
wesen wären.» Selbst Starbucks oder
McDonald’s haben schneller auf die
Konsumentenwünschereagiert.
Bei Kraft Heinz steht nun eine
Unternehmensstrategie infrage, die
langedieweltweite Lebensmittelindus-
trie dominiert hat. Statt mit ständigen
Zukäufen undKostensenkungenSyn-
ergien zu heben, müssen die Unter-
nehmen heute mit ihren Marken-Port-
folios organisch wachsen. Die Zeiten der
hohenDividenden sind damit erstmals
vorbei. Und damit auch das Geschäfts-
modell, mit dem die Investoren bisher
bei derStange gehalten wurden.Solange
die Dividenden höher ausfielen als die
Kreditkosten für derenFremdkapital-
einsatz, waren sie zufrieden.Jetzt zie-
hen sie ihr Geld ab. Die Aktie hat seit

derFusion von Heinz und Kraft Mitte
2015 zwei Drittel anWert verloren.
Patricios Wechsel vom Bier zu
Lebensmitteln istkein Zufall. Der Brau-
konzern ABI genauso wieKraftHeinz
werden vom 3G-Fonds des Brasilien-
SchweizersJorge Paulo Lemannkon-
trolliert.Auch Mega-InvestorWarren
Buffett ist beteiligt. Eigentlich wollte
Patricio sich neu als Private-Equity-
Investor betätigen – und hatte auch
schon bei ABI gekündigt. «Doch ein sol-
ches Angebot, CEO einesWeltkonzerns
zu werden, gibt es nicht alleTage.»
Patricio hat im Braukonzern be-
wiesen, dass er Marken wiederbeleben
kann.Aus der süss-klebrigen Guara-
ná-Limonade machte er in Brasilien
einen populären Softdrink, mit Amazo-
nas-Marketing und grünem Design. In
Kanada belebte er die BiermarkeLa-
batt. Zuletzt warPatricio globaler Mar-
ketingdirektor und für ganz Asien zu-
ständig. In China hat er aus Budwei-
ser die wertvollste Biermarke gemacht,
wie er sagt. Nicht nachVolumen, aber
nach Umsatz.KeinWunder, dassPatri-
cio auch jetzt die grösstenWachstums-
chancen inFernost ausmacht.

Lernenvon derTochter


Nun muss er seine Erfahrungen auf
Kraft Heinz übertragen, dieRentabi-
li tät hoch halten und gleichzeitig die
Marken und die Qualität stärken.«Wir
müssen dieKonsumwünsche vorher-
sehenkönnen.» DerVater von drei
Töchtern beobachtet genau:«Meine
Tochter bestellt sich morgens per App
eineWaffel zumFrühstück, die fünf
Minuten später da ist. In diese Rich-
tung werden wir gehen.»

Uber kommt


in der Realität an


Der Umsatz sinkt,und die Verluste steigen


C. H.· Das Ride-Sharing Unternehmen
Uber ist erstvor wenigenWochen mit
Volldampf an die New-York-Börse ge-
rauscht, doch die jüngsten Geschäfts-
zahlen zeigen wenig von der Dynamik
und dem Optimismus, die das Uber-
Management beim IPO zu verbreiten
suchte.Das Umsatzwachstumist das
geringste, dasUber jeveröffentlicht hat,
und derVerlust ist in absoluten Zahlen
der höchste in derFirmengeschichte.
Nun dürfe man die Zahlenaber nicht
für bare Münzenehmen, sondernmüsse
sie differenziert betrachten, meinte das
Unternehmen bei derVeröffentlichung
der Zahlen am Donnerstagabend New
Yorker.Wenn man nämlich die Einmal-
kosten für den Börsengang, den Zustupf
für dieFahrer und dann noch dieses und
jenes mit ein- oder eben herausrechne,
dann läge Uber voll im Plan. Das grenzt
jedoch an Schönrechnerei.

Die Praxisist kompliziert


Ubers Geschäftszahlen offenbaren
nämlich vor allem eines: Bei dem Ride-
Sharing-Unternehmen klemmt die
Handbremse.Analytiker und Inves-
toren hatten beim Börsengang dar-
auf gesetzt, dass Netzwerkeffekte (je
mehr Uber-Fahrer, desto mehrKun-
den und andersherum) und derVorteil
desVorreiters («First MoverAdvan-
tage») UbersWachstumbeschleuni-
gen und dieFirma bald zum unanfecht-
baren Gewinner(«The winner takes it
all»)machen würden. Überdies würde
das Management seinen Feenstaub
auch auf neue Geschäftsbereiche stäu-

ben, so die Expansion nach allen Seiten
wie etwa im Bereich der Lieferdienste
fürRestaurants mit «Uber Eats» und
Uber zu einem Mobilitätskonglomerat
ausbauen.

Vife Konkurrenten


Doch dieTheorie ist viel attraktiver als
die Praxis. So hat Uber zwar sein Netz-
werk anFahrern stark ausgebaut, doch
es muss ihnen hohe Prämien bezahlen,
und viele fahren auch fürLyft oder an-
dereKonkurrenten; eine hoheRendi-
ten sichernde Markteintrittsbarriere ist
das nicht. Und derVorteil desVorreiters
mag biszueinem gewissen Grad in den
USA gelten, wo Uber als erstes Ride-
Sharing-Unternehmen auf den Markt
gekommen warund heute einen Markt-
anteil von 70% hält. Aber in anderen
Regionen, wie etwa in potenziell gros-
sen Märkten wie Südamerika, haben
neuereAnbieter Uber zumTeil bereits
weit hinter sich gelassen. Und auch die
erhofftenVerbundeffekte stellen sich
nicht durch Zauberhand ein, vor allem
dann nicht, wenn–wie imFall von Uber
Eats – neueKonkurrenten fast zeit-
gleich auf neuen, internationalen Märk-
tenauftauchen.
Das alles heisstnicht, dass Uber
nicht einesTages zu einem profitablen
Konzern herangewachsen sein wird.
Es heisst aber, dass für eineFirma wie
Uber in vielerlei Hinsicht die phantasti-
schen Mechanismen der digitalenWirt-
schaft (Netzwerkeffekte usw.) nureinge-
schränkt gelten und dass UbersWeg ein
langer und harziger sein wird.

«Wir müssen die
Konsumwünsche
vorhersehen.»

MiguelPatricio
Neuer Chef
AP von Kraft Heinz
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