Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

Samstag, 10. August 2019 SPORT43


Alleskönner mit berühmten Vorfahren


Mathieu van der Poel gewinnt Velorennen im Quer, auf der Strasse –und jetzt auch noch im Mountainbike


PHILIPPBÄRTSCH, LENZERHEIDE


Mathieuvan derPoel kennt jetzt auch
diegrosseRadsportwelt,aberMountain-
bike- und Querrennen sind das, was der
24-jährige Niederländer die kleineRad-
sportwelt nennt.
Es istFreitag, der ersteTag derWelt-
cup-Veranstaltung auf der Lenzerheide.
Mountainbike-Weltcup, kleine Rad-
sportwelt. Zweieinhalb Stunden vor
dem 20-minütigenKurzrennen, das er
ein weiteres Mal gewinnen wird,kommt
Mathieuvan derPoel zumbescheidenen
Bus seinesbescheidenenTeams.Vordem
BussteheneinTischundeinpaarKlapp-
stüh le, van derPoel setzt sich hin und
wartet auf die ersteFrage.
Der Rabatz von Ende April ist weit
weg. Damals gewann dieserradsport-
liche Alleskönner das GoldRace, das
wichtigste Strassenrennen der Nieder-
lande. Das GoldRace ist zwarkeines
derfünfMonumente,aberdocheinKlas-
siker. GrosseRadsportwelt. Schon der
GrossvaterRaymondPoulidor und der
VaterAdrievanderPoelwareninihrda-
heim. Poulidor, 82, ist der berühmteste
NichtsiegerderTourdeFrance.Erwurde
dreimalZweiterundfünfmalDritterund
trug nie das Maillot jaune. Und doch gilt
«Poupou» als populärsterRennfahrer,
den Frankreich je hatte.


Der Jüngere verblüfft


Ende der achtzigerJahre machtePou-
lidorFerien auf Martinique, mit ande-
ren ehemaligen und noch aktivenRenn-
fahrern. SeineTochter verliebte sich in
Adrie van derPoel, einen erfolgreichen
Classique-Jäger auf der Strasse und spä-
teren Querweltmeister.1992 bekam das
Paar einen Sohn,David,heuteVeloprofi.
Und 1995 noch einen,Mathieu,dito.Der
Jüngere verblüfft.Wie eineDampfloko-
motive zogvan derPoel am GoldRace
dieVerfolgergruppe an die zweiVoraus-
fahrerheran.Dannfanderauchnochdie


Kraft,den Sprint für sich zu entscheiden.
DieRadsportwelt,obdiegrosseoderdie
kleine, war aus dem Häuschen.
«Die Klassikersaison hat viel verän-
dert», sagt Mathieuvan derPoel auf sei-


nem Klappstuhl, «ich erhielt viel mehr
Reaktionen, und die Leute wollen jetzt,
dass ich öfter auf der Strasse fahre.»
Dochvan derPoel ändert seinen Mas-
terplan nicht, und in diesem Masterplan
steh t im Moment ein Ziel über jedem
anderen: in einemJahr inTokio Moun-
tainbike-Olympiasieger werden.
Van derPoel teilt dieses Ziel mit Nino
Schurter, der 2016 Olympiagold gewann
und die Sportart in den letztenJahren
dominiert hat. «Irgendwannkommt der
Moment, da irgendeiner schneller ist»,
hatte Schurter vor dieser Saison gesagt –
und dabei vor allem anvan derPoel ge-
dacht. Jetzt ist irgendwann undvan der
Poel der Mountainbiker der Stunde.Am
Sonntag gewann er zum zweiten Mal ein
Weltcup-Rennen in der einzigen olym-
pischen Bike-Disziplin Crosscountry,

zweieinhalb Monate nach dem ersten
Mal.Wie van derPoel jeweils angriff,
wie er Schurter davonfuhr, war impo-
sant. «Ich habe nochkeinenFahrer er-
lebt, der so antritt wie er», sagte Schur-
ter dieseWoche in einem Interview mit
dem«Tages-Anzeiger». «Er ist derzeit
der besteVelofahrer derWelt.»
Schurter sagte bewusstVelofahrer–
und nicht Mountainbiker. Einerseits
wegen derPolyvalenz desKonkurren-
ten .Anderseits weil es verfrüht wäre,
van derPoel als neue Nummer eins der
Biker auszurufen. Doch Schurter istauf
dem Weg nachTokio ein bärenstarker
Konkurrent erwachsen;der Bündner hat
wieder einen Rivalen,an dem er sich ab-
arbeiten muss. Mit van derPoel ergeht
es ihm wie währendJahren mitJulien
Absalon,allerdings in veränderterRolle.

Schurter war derJunge, der den sechs
Jahre älteren Absalon zuerst bedrängte
und dann immer häufiger bezwang. Mit
22 wurde er Olympiadritter, mit 23 erst-
malsWeltmeister,mit 24 erstmals Ge-
samtweltcup-Sieger. Nun ist Schurter 33,
neunJahre älter alsvan derPoel.
Van derPoel ist nicht unbedingt ein
frühreifer Siegfahrer aufdem Mountain-
bike, «es hat länger gedauert als erhofft»,
sagt er selber.Aber er ist ganz gewiss ein
frühreifes Multitalent. Zuerst machte er
im RadquerFurore : zweimalJunioren-
Weltmeister, zweimal Elite-Weltmeis-
ter, das erste Mal mit 20 und als bisher
jüngster Querfahrer, das zweite Mal in
der vergangenen Saison,in der er 31 sei-
ner 33 Querrennen gewann.
2013 wurdevan derPoel auchJunio-
ren-Weltmeister im Strassenrennen. In
dieser Domäne feierteer am GoldRace
auch den bisher grösstenTriumph,in der
Debütsaison aufWorld-Tour-Stufe, als
Fahrer der unterklassigen Equipe Co-
rendon-Circus, für die er auch in den
anderen Disziplinen fährt.Van derPoel
wird jetzt natürlich der Hof gemacht von
den grossenTeams, aber seinVertrag
läuft bis 2023. Er sagt, er glaube an das
Projekt,dasTeam sei aufWachstum aus-
geri chtet,«und es zahlt mir genug Geld».
In der Szene wirdkolportiert, seinJah-
reslohn betrage eine Million Euro.

Die Wahl ist wohlkalkuliert


Für van derPoel geht die Bike-Saison am
Sonntag zu Ende, auf dieWM in Kanada
und das letzte Weltcup-Rennen verzich-
tet er, zugunsten der Strassen-WM.Dass
er es an den Olympischen Spielen um-
gekehrt machen wird, ist auch Kalkül.
«Im Mountainbike ist es wie imQuer:
Die Besten schaffen es in derRegel auch
aufs Podest», sagt van derPoel. «Auf der
Strasse ist alles viel unberechenbarer.
Quer ist nicht olympisch, also ist Moun-
tainbike die logischeWahl.»
Doch wiekommt es, dass dieser junge
Mann quasi auswählen kann, wann er
wo reüssieren will?Van derPoel profi-
tiert von der vielseitigenAusbildung, sie
liegt imTrend, Egan Bernal, der 22-jäh-
rige Tour-de-France-Sieger,gewann20 14
und 2015 nochJunioren-WM-Medaillen
im Mountainbike. Peter Sagan, der drei-
facheWeltmeister im Strassenrennen,
wurde auf dem Bike sogarJunioren-
Weltmeister. «Der Bewegungsschatz
solcherAthleten ist oftmals grösser, ihre
MotorikundEffizienzaufdemVelobes-
ser », sagtBeatMüller,Sportwissenschaf-
ter und Leistungssportchef des nationa-
len RadsportverbandesSwiss Cycling.
Was denRest betreffe, liege vieles in den
Genen,«sie spielen eine zentraleRolle»,
sagt Müller.
Mathieuvan derPoel ist genetisch
bestens versorgt.

Mathieu van derPoel genügt ein bescheidenerTeambus. GIANEHRENZELLER / KEYSTONE

Angeschossene Bären


Die Berner Schwinger kämpfen umihre Macht – ihr Verbandsfest amSonntag ist auch ein Casting für das Eidgenössische in Zug


MARCOACKERMANN


Es ist ein Bild wie aus dem Geschichts-
buch: kräftige Männer auf einemFels-
vorsprung, im Hintergrund aufge-
türmteWolken über mächtigen Berg-
kett en, unten der Schriftzug: «Zäme si-
mer starch». Entstanden ist dieFoto
vor einerWoche. Die Berner Schwin-
ger hatten hoch oben amJochpass ein
Trainingscamp abgehalten und im Mas-
senlager übernachtet. Ihre Blicke auf
dem Bild richten sich nach Zug, dort-
hin, wo in zweiWochen das Eidgenös-
sische Schwingfest stattfindet.
Die Aufnahme kann unterschiedlich
ge deutet werden, zum Beispiel so:Die
Berner befinden sich gerade in einer
Krise. Die Zeit ist gekommen, um sich
ins Reduit zurückzuziehen, dieReihen
zu schliessen. Sie, die ihren Sport in die-
sem Jahrzehnt dominierten,erlitten Ende
Juli am Brünig eine herbe Niederlage. Im
ersten Gang wirktensie träge wie müde


Bären, sie kassierten eineOhrfeige nach
der anderen – von den Innerschweizern,
denen nachgesagt wird, es habe ihnen
in entscheidenden Momenten schon an
Durchsetzungsvermögen gemangelt.

Wie gut ist Christian Stucki?


Von den siebenFesten mit eidgenössi-
schem Charakter, die seit 2008 ausge-
tragen wurden, haben die Berner sechs
gewonnen und dabei alleKönige ge-
stellt. Doch nun ist ihrKönigreich be-
droht.DerRuf nach einem Einpeitscher
wurde laut, nach einem wie demFuss-
balltrainer HanspeterLatour, nach des-
sen Brandrede 2010 derKönigstitel ins
Bernbiet zurückkehrte.Aber das alles
tönt etwas gar nachDurchhalteparolen,
und diese sind oft das Mittel, wenn man
nicht mehr weiterweiss.
Vor dem Eidgenössischen zeigen die
bösen Berner ihre Zähne nurnoch ein-
mal, an diesem Sonntag an ihremVer-

bandsfest in Münsingen. Sie sind dort
unter sich. Und es muss sich weisen, wer
das Potenzial hat,um dieKönigskrone im
Kanton zu halten.Als grössterTrumpf
wird ausgerechnet derjenige gehandelt,
der fast die gesamte Saison verpasst hat:
Christian Stucki. Der 34-Jährige riss sich
im Mai das Innenband im linken Knie,
erst letzteWoche gab eran einem belang-
losenWettkampf das Comeback.
Die lange Absenz muss nichts be-
deuten für seine Siegchancen. Kaum je-
mand verfügt über so vielRoutine wie
Stucki. Manch einer vermutet, dass die
Pause für ihn sogar ein Glücksfall sei.
So konnte er sich ausgeruht und fokus-
siert auf das letzte grosse Karriereziel
vorbereiten. Der Königstitel ist der ein-
zige wichtigeTitel, der Stuckifehlt. Frü-
her lief er Gefahr, sich imLaufe eines
Jahres zu verzetteln, heuer nicht. Eine
der besten Saisons hatte er 2008, nicht
lan ge nach einer schweren Beinverlet-
zung. Die anderen grosse n Namen aus

dem Bernbiet scheinen zu sehr mit Pro-
blemenbeschäftigt zu sein, als dass sie
am Eidgenössischen eine grosseRolle
spielenkönnten. Matthias Glarner, der
König von 2016, hat sich seit dem Gon-
delsturz mit starken Gegnern schwer-
getan. Der zuletzt unbeständige Kilian
Wenger, der König von 2010, verzich-
tet mit einer Kniescheiben-Verletzung
auf das Berner Kantonale. Remo Käser,
der kein König ist,aber vermarktet wird
wie einer, ist häufig angeschlagen,jüngst
wegen einesBandscheibenvorfalls.

LauerndeGeheimfavoriten


Die Berner scheinen in derTat den
Vorsprung auf dieKonkurrenz einge-
büss t zu haben. Die anderenTeilver-
bände haben heute in ihrenRegionen
auch Spitzenschwinger, die mit profes-
sionellen Methoden Zugpferde in ihren
Trainingszellen sind. Alsokönnte sich
am Ende doch einiges über denTeam-

geist entscheiden. Dieser funktionierte
bei den Bernern meist über alle Täler
hinweg, wogegen andernorts Risse zum
Vorscheinkommenkonnten.Am letzten
eidgenössischen Anlass,dem Unspun-
nenfest 2017, hätte der Innerschweizer
ErichFankhauser mit einer taktische-
ren Schwingweise dem Klubkollegen
Joel Wicki zur Schlussgangteilnahme
verhelfenkönnen. Doch am Ende war
Wicki Zuschauer dabei, wie die Berner
den Festsieg unter sich ausmachten.
Ist der Berner Slogan «Zäme simer
starch» mehr als eine Floskel,könnte
letztlich auch einer der Berner Ge-
heimfavoriten für denKönigstitel in-
frage kommen. Einer wie Matthias
Aeschbacher, der sich in die erweiterte
Spitze geschlichen hat wie 2016 Mat-
thias Glarner. Oder einer wie Michael
Wiget, der mit 20Jahren ähnlich unbe-
kümmert wirkt wie KilianWenger 2010.
Man solltenie vergessen:Angeschos-
sene Bären sind gefährlich.

BILDER PD
RaymondPoulidor
Grossvater und
frühererRadstar

Adrievan derPoel
Vater und
frühererRadstar


HERAUSGEGRIFFEN


Die Mädchenauf


dem Skateboard


Isabelle Pfister· Di e derzeit bekannteste
Skateboarderin derWelt ist 11Jahrealt.
Die Japanerin Sky Brown ist momen-
tan Weltranglisten-Neunte; ihr gelang
vor einerWoche bei einem Anlass der
Extremsport-Serie X-Games in Min-
neapolis als ersterFrau überhaupt ein
«Frontside 540», also anderthalb Um-
drehungen.
Brown ist ein Star.Auf In stagram fol-
gen ihr 400000 Nutzer, was auch dem
letztjährigen Gewinn derTV-Talent-
show «Dancing with the Stars:Juniors»
geschuldet ist.Nun will sie an den Olym-
pischen Spielen inTokio reüssieren.
Für Olympia in einemJahr hat das
Internationale OlympischeKomitee
(IOK) fünf Sportarten aufgenommen:
Klettern, Baseball, Karate, Surfen und
Skaten. Beim Skateboarden werden die
Medaillen wohl an minderjährige Mäd-
chen gehen.
Für das Debüt des Skate-Sports an
Olympiasind bei denFrauen 20 Start-
plätze zu vergeben, pro Land dürfen
maximal drei Athletinnen starten. An
insgesamt achtWettkämpfen sammeln
die Skaterinnen Punkte, nach dem ab-
schliessenden Eventin Mexiko-Stadt
Mitte September sind die 20 besten Ska-
terinnen der Punktewertung offiziell
qualifiziert.Derzeit führt eine 13-jährige
Japanerin dieWeltrangliste an. Unter
den Top 20 sind die Hälfte der Athle-
tinnen minderjährig, das Durchschnitts-
alter liegt bei16,6 Jahren.
Brown startet bei Olympia für Gross-
britannien anstatt fürJapan; ihrVater
ist Engländer. Der japanischeVerband
ist vor den Spielen inTokio auf Leis-
tung und Erfolg fokussiert. Die meisten
Skateboarderinnen derWeltspitze sind
Japanerinnen; derKonkurrenzkampf ist
hart. Bei den Briten ist Brown als Star-
teringesetzt und erhält mehrFreiheiten.
Brown wird also inTokio starten,
doch für die OlympischenJugend-
spiele 2018 in Buenos Aires war sie zu
jung. Ein Kuriosum in der Altersrege-
lung des IOK führt dazu, dass die jun-
gen Skaterinnen um Brown zwaran den
Oly mpischen Spielen der Erwachsenen
teilnehmen dürfen,nicht aber an den
Jugendspielen. Dort beträgt das Min-
destalter14 Jahre.
Bei den Olympischen Spielen der
Erwachsenen führt das IOK dieselben
Altersbegrenzungen wie die jeweiligen
internationalenVerbände. World Skate
bestätigte gegenüber der «Frankfurter
Allgemeinen Zeitung», dass es im Skate-
boardenkeine gebe:«Wir vertreten den
Standpunkt, dass eine Sportlerin, die
talentiert genug ist, sich für Olympia
zu qualifizieren, in derLage ist, mit den
Risiken des Skateboardings umzugehen.
Egal, wie alt sie ist.» Gut möglich also,
dass inTokio dreiSekundarschülerinnen
auf demPodest stehen.
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