Der Stern - 08.08.2019

(Ann) #1
ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART

ACT/STERN

Diese Woche:
Dr. Ricardo Zorron, Leiter des
Zentrums für Adipositas und
Metabolische Chirurgie, Klinikum
Ernst von Bergmann in Potsdam

AUFGEZEICHNET VON BEATE WAGNER;

sind, ist es oft schwierig, aus der ersten
körperlichen Untersuchung einen klini-
schen Befund zu erstellen. Zudem klagen
sie häufig weniger stark über Beschwerden
als Normalgewichtige in vergleichbarer
Situation.
Die Internisten führten daher eine Ul-
traschalluntersuchung des Magen-Darm-
Trakts und eine Computertomografie
durch. Sie sahen eine ausgeprägte Entzün-
dungsreaktion, die sich von der Milz bis ins
Becken zog. Außerdem waren mehrere
Abszesse erkennbar, abgegrenzte, vereiter-

V


or einiger Zeit wurde ich in die in-
ternistische Notaufnahme geru-
fen. Dort rang eine 65-Jährige um
ihr Leben. Die übergewichtige
Frau – laut Akte brachte sie 130
Kilogramm auf die Waage – litt an

hohem Fieber, musste sich immer wieder


übergeben und konnte kaum noch laufen.


Sie hatte eine Sepsis, also eine Blutvergif-


tung. Irgendwo im Körper musste es einen


entzündlichen Prozess geben, der sich über


das Blut in den Organismus ausgeweitet


hatte. Die Beschwerden hatten schon vor


Tagen eingesetzt, erfuhr ich.


Begonnen hatte alles mit


starken Rückenschmerzen.


Schmerzmedikamente hatten


nicht geholfen. Die Frau war


innerhalb von zehn Tagen in


den Notaufnahmen von zwei


Kliniken gewesen. In der ersten


hatten die Kollegen die Ver-


dachtsdiagnose Magen-Darm-


Infekt gestellt. In der zweiten


hatte man auf einen Harnbla-


seninfekt getippt. Nach einigen


Untersuchungen und Labor-


tests war die Patientin jeweils


mit einem Antibiotikum nach


Hause geschickt worden.


Schließlich war sie mit ihrem


Mann zu uns gekommen.


Aus der ganzen Krankenge-


schichte erfuhren wir, dass die


Frau häufiger mal Sodbrennen


hatte und dagegen ein Medika-


ment nahm. Zudem hatte sie


vor sechs Jahren ein Magen-


band eingesetzt bekommen. So


ein elastisches Band aus Sili-


kon schnürt den Magen ein, die


Betroffenen werden schneller


satt und verlieren dadurch Ge-


wicht. Vor etwa 15 Jahren noch


war der Eingriff, eine „bariatri-


sche“ Operation, ein gängiges


Verfahren. Heute werden keine


Magenbänder mehr eingesetzt.


Denn Langzeitstudien zeigten:


Über die Zeit kommt es oft zu Komplika-


tionen. 60 Prozent der eingesetzten Ma-


genbänder müssen wieder herausoperiert


werden. Zudem stellte sich heraus, dass


nach kurzer Zeit das Gewicht der Betroffe-


nen wieder anstieg.


Bei stark übergewichtigen Patienten, die

in einem schlechten Allgemeinzustand


te Regionen im Bauchraum. Die Kollegen
tippten auf eine Divertikulitis: Das sind
entzündete Ausstülpungen der Darm-
schleimhaut. Breitet sich die Entzündung
auf benachbarte Organe aus und bildet
Abszesse, muss operiert werden.
Wir veranlassten eine Gastroskopie. Da-
bei wird der Magen von innen gespiegelt.
Das Silikonband, das von außen den
Magen einschnürt, hätte man dabei also
nicht sehen dürfen. Aber: Bei unserer
Patientin hatte sich das Band gelockert, die
Organwand durchstoßen und war in den
Hohlraum des Magens einge-
wachsen. Solch ein Prozess ent-
wickelt sich oft über Jahre und
macht meist keine Beschwer-
den. Allerdings: In diesem Fall
hatten sich Bakterien über das
„Loch“ in der Magenwand in
den Bauchraum ausgebreitet.
Die Behandlung erfolgte in
zwei Schritten: In der ersten OP
ließen wir per Schlüsselloch-
technik aus mehreren Abszes-
sen etwa 800 Milliliter Eiter
mithilfe von dünnen Schläu-
chen nach außen ablaufen.
Sechs Tage später entfernten
wir in der zweiten OP das ein-
gewachsene Magenband. Nach
vier Tagen wurde die Patientin
beschwerdefrei entlassen.
Danach setzten wir kein
neues Magenband ein, sondern
führten etwas später eine Ma-
genbypass-OP durch. Dabei
wird ein neuer, kleinerer Ma-
gen „gebaut“, werden etwa zwei
Meter Dünndarm umgeleitet
und die Enden beider Organe
verbunden. Die Nahrung legt
dadurch im Verdauungstrakt
einen kürzeren Weg zurück
und wird so weniger verstoff-
wechselt. Der Magenbypass ist
heute ein Standardeingriff –
der Patient verliert mehr Ge-
wicht, und Nebenerkrankun-
gen wie Diabetes, Bluthochdruck und
Schlafapnoe werden deutlich gelindert. 2

Eine Frau hat Fieber, Schmerzen und übergibt sich.


Die Ärzte entdecken, was das Ganze mit einer


Abnehmprozedur zu tun hat, die Jahre zurückliegt


Verhängnisvoller Schlankmacher


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DIE DIAGNOSE


GESUNDHEIT


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