Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1

DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019 125


Nachrufe


Hildegard Kempowski, 84
»Tanzstunde. Fräulein Janssen nach Hause gebracht.« So
notierte es Walter Kempowski im November 1956. Der spä-
tere Schriftsteller war im März aus der DDR in die Bundes -
republik gekommen. Acht Jahre Haft als politischer Häft-
ling im Zuchthaus Bautzen lagen hinter ihm. Es sei, schrieb
er zu Beginn des Jahres 1957, »ein wahrer Segen, daß ich
Hildegard gefunden habe, so ist das Leben überhaupt erst
lebenswert«. Die in Bremen geborene Pfarrerstochter
Hildegard Janssen traf er in Göttingen, wo beide sich auf
den Beruf als Grundschullehrer vorbereiteten. Dass er
mehr wollte, wusste sie: Er las ihr regelmäßig aus einem bis
heute unveröffentlichten Roman vor.
Auf was sie sich mit der Eheschließung im April 1960 ein-
ließ, konnte sie kaum ahnen. Gut zwei Jahre später verab-
schiedete Hildegard Kempowski sich vom Lehrerberuf, um
sich der Familie zu widmen, im Oktober 1962 kam das zwei-
te Kind zur Welt. Im März 1963 begab sie sich für längere
Zeit in eine psychiatrische Klinik, ihr Mann sorgte sich rüh-
rend um sie. Ein halbes Jahrhundert lang blieb sie für ihn
die wichtigste Person, tapfer an seiner Seite, stützend, hel-
fend, mit großer Wertschätzung für seinen unermüdlichen
Arbeitseifer. Aber niemals ohne Eigensinn. Die warmherzi-
ge Frau war für jeden Besucher ein Glücksfall im großen
Haus in Nartum, das sich der Bestsellerautor (»Tadellöser &
Wolff«) hatte bauen können. An der Seite des leicht kränk-
baren Mannes war sie das Gegengewicht. Sie nahm seine
Marotten geduldig hin, sagte aber auch zu ihm: »Du resi -
gnierst auf meine Kosten.« Vom »Echolot« könne man irr-
sinnig werden, rief sie einmal aus, als ihr die kräftezehrende
Mitarbeit an der riesigen literarischen Collage über den
Kopf wuchs. Wenn sie das Telefon läuten ließ, tobte er,
knallte mit den Türen. »Die armen Dichtergattinnen! Als
Dichterwitwen rächen sie sich an der Nachwelt«, glaubte er.
Keineswegs: Als er an Krebs erkrankt war und nicht mehr
reisen konnte, nahm sie wie selbstverständlich den Platz ein,
der ihr gebührte. Und nach seinem Tod 2007 war sie stolze
Hausherrin, gastfreundlich und – bisweilen schien es so –
auch ein wenig erleichtert, nun seinen Ruhm, der auch der
ihre war, in Ruhe genießen zu können. Hildegard Kem-
powski starb am 12. August in Nartum, Niedersachsen. VH

Sherman Poppen, 89
Seine Geschichte ist rüh-
rend amerikanisch: An
einem Weihnachtstag 1965
schickte seine hochschwan-
gere Frau Nancy ihn und
die beiden kleinen, wilden
Töchter aus dem Haus.
Sherman Poppen, Inhaber
einer Firma für Industrie-
tanks und Schweißerzube-
hör, ließ seinen Blick über
die sanft verschneiten
Dünen am Lake Michigan
schweifen und musste ans
Surfen denken, einen Sport,
den er zu gern beherrscht
hätte. Aus zwei Kinder-
skiern bastelte er dann
einen »Snurfer« – Snow
und Surf –, und nicht nur
seine Töchter waren begeis-
tert. Poppen verbesserte
die Konstruktion des Bretts,
mit dem über Schnee geglit-
ten werden konnte, erhielt
1968 sein Patent dafür, und
bald waren Hunderttausen-
de der Teile verkauft, die
als eine der Urformen des
Snowboards, ohne Fußbin-
dung, gelten. Seine Erfin-
dung machte den »Großva-
ter des Snowboards« zum
Helden des modernen Win-
tersports, der seit 1998 eine
olympische Disziplin ist.
Die Firma, die den Snurfer
in Lizenz baute und ver-
trieb, habe nie genug Wer-
bung gemacht, beklagte
Poppen später. Reich wurde
er nicht. Das Snowboarden
gab er im Alter von 78 Jah-
ren wegen Rückenproble-
men auf. Sherman Poppen
starb am 31. Juli in Griffin,
Georgia. KS

Nancy Kienholz, 75
Die Polizistentochter aus
Los Angeles verdiente ihren
Lebensunterhalt in jungen
Jahren als Hundetrainerin,
Rodeoreiterin und Fotojour-
nalistin. Durchaus mutig
war Kienholz’ Entschei-
dung, Künstlerin zu werden;
wie ihr Mann Edward
Kienholz eignete sie sich
die notwendigen Fertigkei-
ten auto didaktisch an. Sie
wirkten als Team, brachten
es weit, stellten in vielen
wichtigen Museen aus, etwa
im Whitney Museum in
New York, auch in der Berli-
nischen Galerie. Früh mach-
te das Paar Rassismus und
Geschlechterdiskriminie-
rung zu Themen seiner büh -
nenhaften Werke; die bei-
den arrangierten lebens -
große Puppen, Möbel und

andere Objekte zu surrea-
len, manchmal grusel -
erregenden Tableaus. Als
Edward Kienholz 1994
starb, ließ ihn seine Witwe
in einem Oldtimer der Mar-
ke Packard begraben. Zwar
stand Nancy Kienholz eine
ganze Zeit im Schatten ihres
Gatten, beide machten ihre
Zusammenarbeit erst nach
Jahren publik, aber schließ-
lich fand sie die angemes -
sene Beachtung. Das Paar
pendelte mit seinen drei
Kindern lange zwischen
den USA und Deutschland,
beide liebten die Floh -
märkte von Berlin. Berlin,
sagte sie einmal, »hat uns
aufgesogen«. Nancy Kien-
holz starb am 7. August in
Houston, Texas. UK

CARMEN JASPERSEN / DPA PICTURE-ALLIANCE

ROCKY MOUNTAÌN NEWS / POLARIS

CHRISTIAN JUNGEBLODT / LAIF
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