Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1

trops Amtskollegen Wjatscheslaw Molo-
tow. Molotow, seit 1930 Regierungschef,
war wenige Monate zuvor auch zum Au-
ßenminister ernannt worden. Dass dieser
bei den Verhandlungen eher zweitrangig
war, wurde Ribbentrop klar, als er zu sei-
ner Überraschung Stalin in Molotows Ar-
beitszimmer stehen sah.
Die Lage auf dem Kontinent war zum
Zerreißen gespannt. Hitler hatte 1938 Öster-
reich dem Deutschen Reich eingegliedert,
sich das Sudetenland einverleibt und mit
einem Ultimatum im März auch das Me-
melland zurückgeholt. Nun plante er den
Überfall auf Polen. Der erste große Krieg
auf dem Kontinent seit 1918 deutete sich
an. Frankreich und Großbritannien gaben
eine Garantieerklärung für die Unabhän-
gigkeit Polens ab und begannen,
ebenfalls mit Stalin über ein Militär-
abkommen zu verhandeln. Das
schien Hitler von der Notwendig-
keit zu überzeugen, sich einer sow-
jetischen Rückendeckung zu versi-
chern, bevor er Ende des Sommers
den Krieg gegen Polen begann.
Ende Juli entschließt er sich, eine
Verständigung mit den Russen zu
suchen. Kurz darauf lässt Ribben-
trop Molotow mitteilen, dass er im
Falle eines Treffens ein Protokoll
unterzeichnen könne, das die Ein-
flusssphären beider Seiten im Ost-
seegebiet regeln würde. Es ist der
kaum versteckte Hinweis, die bal-
tischen Staaten an die Sowjetunion
auszuliefern.
Am 19. August überreicht Molo-
tow dem deutschen Botschafter
den Entwurf eines Nichtangriffs-
pakts. Am 21. willigt Stalin in die
Reise Ribbentrops nach Moskau
ein. Hitler nimmt die Nachricht
laut Legationsrat Gustav Hilger, der bei
den Verhandlungen dolmetscht, mit unge-
stümer Freude auf: »Jetzt habe ich die
Welt in meiner Tasche!«, soll er gerufen
und mit beiden Fäusten gegen die Wand
getrommelt haben. Frankreich und Eng-
land, denen der Kreml-Führer weit weni-
ger traut als Hitler, sind damit aus dem
Rennen. Am 23. steht Ribbentrop dem
Führer der Sowjetunion gegenüber. Die
Verhandlungen verlaufen reibungslos.
Der auf zehn Jahre berechnete Nichtan-
griffsvertrag, der weit nach Mitternacht un-
terzeichnet wird, aber das Datum des 23.
August trägt, verpflichtet beide Seiten, sich
jeden Angriffs gegeneinander zu enthalten
und keine dritte Macht zu unterstützen, die
den Partner angreifen könnte. Damit ist klar,
dass Hitler in Polen freie Hand haben wird.
Viel weitreichender jedoch ist das gehei-
me Zusatzprotokoll, auf das Stalin höchsten
Wert legt. Demnach soll die Linie zwischen
den deutschen und den sowjetischen Inte-
ressengebieten im baltischen Raum an der


Nordgrenze Litauens verlaufen und in Polen
dem Lauf der Flüsse Narew, Weichsel und
San folgen. Als Ribbentrop im September
noch einmal nach Moskau fliegt und mit Mo-
lotow einen Grenz- und Freundschaftsver-
trag unterzeichnet, wird auf Wunsch Stalins
auch Litauen in die russische Einflusszone
einbezogen. Hitler erhält dafür die Region
Lublin und einen Teil der Region Warschau.
Stalin selbst signiert auf einer Landkarte
mit einem dicken blauen Stift die neue
Trennungslinie zwischen Deutschland und
der Sowjetunion: von der Südgrenze Li-
tauens bis zur Tschechoslowakei. Es ist ein
würdeloses Geschacher zweier Diktatoren,
die den Besitz ihrer kleinen Nachbarn ver-
hökern, und das bei bester Laune. Er habe
manchmal fast geglaubt, »sich unter alten

Parteigenossen zu befinden«, sagt der
Danziger Gauleiter, der Ribbentrop beglei-
tet hat, auf dem Rückflug. Und tatsächlich:
Stalin ist zu dieser Zeit von Hitler ziemlich
beeindruckt, sogar ein Treffen »zwischen
dem Führer und mir« hielt er für »wün-
schenswert und möglich«.
Die Folgen der Geheimprotokolle sind
fatal und kosten unzählige Menschen das
Leben. Am 1. September marschieren Hit-
lers Truppen in Polen ein. Am 17. Septem-
ber, fünf Uhr morgens, Stalins Soldaten.
Während die Wehrmacht Polen von Wes-
ten her niederwalzt, besetzen 28 Schützen-
und 7 Kavalleriedivisionen, 10 Panzer -
brigaden und 7 Artillerieregimenter der
Roten Armee den Osten des Landes. Stalin
schickt 466 000 Mann mit 4000 Panzern
und 5500 Geschützen sowie 2000 Flug-
zeuge nach Polen. Er besetzt 52 Prozent
des polnischen Territoriums mit einer Be-
völkerung von mehr als 13 Millionen Men-
schen. Fast 330 000 Menschen werden
nach Sibirien oder Zentralasien deportiert.

Im Jahr darauf holt sich Stalin auch die
baltischen Länder, nachdem er sie zuvor
mit bloßer Erpressung zu Beistandsverträ-
gen gezwungen hat. Die wertvollen stra-
tegischen Positionen an der Ostsee fallen
Stalin kampflos in den Schoß. Zehntau-
sende werden deportiert.
Zu den Auswirkungen des Pakts gehört
auch das tragische Schicksal mehrerer
Hundert deutscher Antifaschisten, Kom-
munisten und Juden, die vor den Nazis in
die Sowjetunion geflüchtet sind. Moskau
übergibt sie nach Unterzeichnung des
Pakts an der sowjetischen Grenze dem Hit-
ler-Regime. Viele von ihnen, darunter die
Lebensgefährtin des in der Sowjetunion
erschossenen KPD-Spitzenfunktionärs
Heinz Neumann, landen im KZ.
Als Hitler in Polen einfällt, wirkt
es so, als tue er es auf Einladung
Stalins. Frankreich und Großbritan-
nien springen Polen bei und erklä-
ren Hitler-Deutschland den Krieg.
Stalins Außenminister Molotow
kommentiert ihre Entscheidung
vor dem Obersten Sowjet wie folgt:
»Es ist nicht nur sinnlos, sondern
auch verbrecherisch, einen solchen
Krieg als Krieg zur Vernichtung des
Hitlerismus zu führen«: Hitler wol-
le den Krieg so schnell wie möglich
beenden, Großbritannien und
Frankreich wollten das nicht – sie
seien die eigentlichen Kriegstreiber.
Nach dem Krieg lässt Stalin Ar-
gumentationshilfen anfertigen, da-
mit sein Bild als wichtigster Anti -
faschist der Welt nicht weitere Krat-
zer bekommt. Der Pakt wird als
genialer Schachzug gepriesen. Ohne
ihn, so ein Argument, wäre die
UdSSR Opfer eines Kreuzzugs der
kapitalistischen Staaten geworden.
So aber habe sie sich eine Atempause von
zwei Jahren erkauft, bevor Hitler – trotz
Nichtangriffsvertrag – die Sowjetunion
überfiel. In diesen zwei Jahren habe sie
sich auf den Krieg vorbereiten können –
ein Argument, das unsinnig ist, weil Stalin
1941 von Hitlers Überfall völlig überrascht
wird und seine Armee in eine katastropha-
le Defensive gerät.

Der Sitz der RussischenMilitärhistori-
schen Gesellschaft befindet sich in einem
alten Palais in der Moskauer Petrowski-
Gasse, das nach dem Einmarsch Napoleons
1812 errichtet worden ist. Es atmet gedie-
gene Eleganz. Michail Mjagkow, Spezialist
für die Geschichte des Großen Vaterländi-
schen Krieges 1941 bis 1945 und Professor
an der Diplomatenschmiede MGIMO, emp-
fängt in seinem Arbeitszimmer. Ja, er sei
für eine Überprüfung des Beschlusses über
den Hitler-Stalin-Pakt von 1989, sagt er.
Das ergebe sich »logisch aus der Dynamik
des historischen Bewusstseins«. Die dama-

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Ausland

MAXIM SHIPENKOV / EPA-EFE / REX
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