Die Welt Kompakt - 13.08.2019

(Barré) #1

Graf. Wie glücklich musste sie
sein.
Steffi trug weiße Turnschuhe
und Laura schöne lange Kleider
mit Schleifen. Oh, wie sehr woll-
te ich das alles haben. Papas,
Schleifen, weiße Turnschuhe,
lange Kleider und Zöpfe.
Ich hatte auch einen Vater,
aber der hatte andere Kinder, an-
dere Frauen, ein anderes Leben.
Ich musste anderer Kinder Klei-
dung auftragen, mir war immer
alles zu groß oder zu klein. Ich
musste den Bauch einziehen, da-
mit Mutter den Knopf der Cord-
hose schließen konnte. Meine
Pullis rutschten nach oben, die
Socken nach unten und ich
schämte mich für meine klobigen
Lederschuhe.
Dann kam der Herbst, und
Mutter und ich gingen samstags
zur Oma auf die andere Straßen-


seite hinüber, weil die neuer-
dings einen Farbfernseher besaß.
Ein schönes weißes Gerät
von drüben, mit dem wundersa-
men Namen Nordmende. Un-
wirklich strahlten die Farben,
rein und weiß und schön schien
der Westen.
Weiß wie Wrigley’s Spearmint,
weiß wie Raffaello, weiß wie
Meister Propers Zähne, weiß war
der Westen, weiß war er, nicht
sauber, sondern rein, die Frische
war groß, da war riesig was los.
Der Westen war weiß und der
Osten grau.

Bevor Paola und Kurt Felix mit
„Verstehen Sie Spaß?“ loslegten,
sah sich Oma noch pflichtschul-
dig die „Aktuelle Kamera“ auf
DDR 1 an. Danach wurde endlich
umgeschaltet. „Hier ist das Erste
deutsche Fernsehen mit der ,Ta-
gesschau‘.“
Uwe Barschel lag tot in der Ba-
dewanne, Beirut wurde bombar-
diert und schon wieder war ein
Starfighter abgestürzt. Oma
schüttelte sich, wenn sie Franz
Josef Strauß sah. Das war un-
dankbar. Strauß hatte die DDR
doch 1983 durch das Einfädeln ei-

nes Milliardenkredites gerettet.
In „Verstehen Sie Spaß?“ klet-
terte Reinhold Messner aufs
Matterhorn, und oben stand ein
Kiosk. Messner fand das nicht
lustig und erklärte Paola und
Kurt Felix warum. Dabei glitzerte
in seinen Augen schon der heilige
Glanz von Greta Thunberg.
Mutter und ich dachten uns ta-
gelang nach der Show noch Strei-
che für die versteckte Kamera
aus.


  1. Der Westen kam in den
    Osten. Auf den Tennisplätzen
    der Welt stöhnte nun Monica Se-
    les. Steffi war zeitweise ent-
    thront.
    Bei Woolworth gab’s T-Shirts
    für fünf Mark, und in einem
    Jeansladen im Wedding besorgte
    ich mir endlich eine Marmor-
    jeans, die ich unten aufrollte, da-
    mit man meine neuen weißen
    Knöchelturnschuhe besser sehen
    konnte.
    Alle ließen sich jetzt scheiden.
    Mutter war nicht mehr die einzi-
    ge Alleinerziehende. Oma bekam
    eine Depression wegen des Un-
    tergangs der DDR, und als der
    Wahnsinnige Monica Seles in
    den Rücken stach, hatte ich die
    Stadt verlassen.
    Mein erster Freund schnitt
    sich aus Wut über die Wieder-
    wahl Helmut Kohls den Oberarm
    mit einem Cuttermesser auf, und
    als Peter Graf wegen Steuerhin-
    terziehung angeklagt wurde, war
    ich nach Berlin zurückgekehrt.
    Damals habe ich diese Surfmu-
    sik gehört. Aus den Tarantino-
    Soundtracks und dem von „Full
    Metal Jacket“. Der Sommer war
    heiß, die Wohnung klein. Ein
    Raum/Hinterhof/Duschkabine/
    Außenklo/Ofenheizung. Ich trug
    Trainingshosen, und geschmol-
    zene Plastikpuppenköpfe klebten
    an den Wänden der Bars.
    Nach Ost-Berlin zogen jetzt
    alle. Die Münchner, die Frankfur-


ter, die Nürnberger, die Hambur-
ger. Die waren in der Werbung
oder schrieben für ProSieben
oder wohnten bei Wim Wenders.
Ich blieb zu Hause, spielte „Soli-
taire“, kiffte und schaute nachts
Sexfilme auf Puls TV.
Und dann trug mein Lover ei-
nen Kenzo-Pulli, den hatten sie
auf einer Modenschau in den Ha-
ckeschen Höfen geklaut, sich in
den Backstagebereich geschli-
chen und die Klamotten aus dem
Fenster geworfen, und ich fand
in einem Hausflur in der Rosen-
thaler Straße drei Polaroid-Ka-
meras, und noch jemand hatte
sich nachts auf dem Dachboden
des Tacheles eine Motorsäge ge-
zockt, und ab da haben wir alles
mitgenommen, was ging.
Löffel, Zuckerstreuer, Salz-
streuer, Pfefferstreuer, Gläser,
Aschenbecher, Klopapier, Stühle,
Tische und Schnapsflaschen. Wir
schraubten die Lampen in der S-
Bahn ab, klauten Billardkugeln,
rauchten Opium, knackten Ziga-
rettenautomaten, pinkelten in
Hausflure, vögelten in Rohbau-
ten. Ich aß Haferflocken mit hei-
ßem Wasser und Brühwürfeln
und fragte mich, ob es die RAF
noch gibt und ob man da mitma-
chen könnte.
Am Freitag, den 13. August
1999, erklärte Steffi den Rücktritt
vom Turniertennis, und ich war
im dritten Monat schwanger.
Ein neues Zeitalter brach an.

TRuth Herzberg ist freie Auto-
rin, ihr Debütroman „Wie man
mit einem Mann glücklich wird“
erschien bei mikrotext. Sie stu-
dierte Drehbuch- und Filmdra-
maturgie in Potsdam-Babels-
berg. Ihre Schwester Hannah
Herzberg ist Fotografin, sie
besuchte die Ostkreuzschule
Berlin und die Bauhaus-Univer-
sität in Weimar. Die Schwestern
leben in Berlin.

WWWir waren Steffi und Boris. ir waren Steffi und Boris.
Bis wir es nicht mehr waren

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DIENSTAG, 13. AUGUST 2019 KULTUR 21

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